TITELTHEMA

Péguy auf der Schwelle
von Gianni Valente

Hans Urs von Balthasar schreibt über Péguy: «Er bleibt unteilbar, steht deshalb inner- und außerhalb der Kirche; er ist in partibus infidelium Kirche, also dort, wo sie sein soll. Er ist dank einer Wurzelfassung in Tiefen, wo Welt und Kirche, Welt und Gnade sich begegnen und bis zur Ununterscheidbarkeit durchdringen.» Anmerkungen zum Buch Péguy au porche de l'Église, das vor kurzem im Verlag Les Éditions du Cerf in Frankreich erschienen ist.

     Péguy sagt über sich selbst: «Ich bin ein Sünder. Ich bin kein Heiliger. Die Heiligen erkennt man sofort. Ich bin ein guter Sünder. Ein Zeuge. Ein Sünder, der jeden Sonntag in der Pfarrei die heilige Messe besucht, ein Sünder mit den Schätzen der göttlichen Gnade.» Er wußte nur zu gut, daß «in Fragen der Christenheit niemand so zuständig ist wie der Sünder. Niemand weniger als der Heilige. Allgemein handelt es sich sogar um dieselbe Person. Der Sünder und der Heilige sind sozusagen zwei integrale Elemente, das heißt zwei integrale Bestandteile des Mechanismus der Christenheit. Gemeinsam sind sie unverzichtbar, der eine für den anderen.»
     «Die Pharisäer wollen, daß die anderen vollkommen sind. Und sie verlangen und fordern es. Und sie sprechen von nichts anderem.» Zu ihnen gehört auch die Schar der Kleriker, Kirchenführer und offiziellen katholischen Intellektuellen, die einerseits lieber die Augen verschließen und die Evidenz verneinen, die wahre Natur und die eigentliche Katastrophe des christlichen Glaubens in der Moderne verheimlichen. Andererseits sind sie aber besorgt, weil sie mit dem moralischen Lebenswandel anderer nicht zufrieden sind. Sie hören nicht auf, die moderne Welt zu verurteilen. «Jammern und Schimpfen ist ihre Stärke. Sie brummen, knurren und schimpfen. Sie sind schlecht gelaunt, und was noch schlimmer ist, sie sind nachtragend.»
     Péguy litt sein ganzes Leben lang unter denen, die er «den Kreis der Frommen» nannte. Und wie es oft der Fall ist, einige Freunde, die zur "Rettung der Seelen" wirkten, fügten dem Dichter aus Orléans das größte Leid zu. Péguys Frau war eine Atheistin, und seine Kinder waren nicht getauft. Daher war er vom Sakramentenempfang ausgeschlossen.

Wo Welt und Kirche,
Welt und Gnade einander begegnen

Jüngst ist in Frankreich im Verlag Les Éditions du Cerf ein Buch erschienen, das mit bisher unveröffentlichten Zeugnissen die Chronik der Auseinandersetzung zwischen dem Dichter und seinen mutmaßlichen "geistigen Lehrern" beschreibt. Sie nahmen seine schwierige und schmerzliche familiäre Lage zum Anlaß, um über sein Herz zu urteilen, und Péguy mußte kämpfen, um sich ihrem Einfluß zu entziehen. Der schöne Titel Péguy au porche de l’Église (Péguy in der Vorhalle zur Kirche) legt nahe, worin das eigentliche Ärgernis bestand, das die katholischen Intellektuellen außer Rand und Band brachte. Es war weniger Péguys angebliche moralische Zwiespältigkeit, sondern vielmehr, daß er ein "Grenzgänger" war, der auf der Schwelle der Kirche blieb, die auch der Geburtsort ist, der Ort, wo der Nichtchrist aus Gnade Christ wird. Das heißt der Ort, wo der Nichtchrist aus Gnade staunend wahrnimmt, daß der christliche Glaube unerwartet seinem Herzen entspricht. Dieses schwindelerregende Bleiben auf dieser ewigen Schwelle («also dort, wo sie sein soll», wie von Balthasar schreibt), konnten die katholischen Intellektuellen und Aktivisten auch damals nicht dulden. Péguy schrieb über sie: «Sie sind keine Christen. Ich will damit sagen, daß sie es nicht bis ins Mark sind. Sie verlieren ständig jene Bedenklichkeit aus den Augen, die für den Christen die innerste Verfaßtheit des Menschen ist; sie verlieren jenes tiefe Elend aus den Augen. Sie bedenken nicht, daß man immer wieder von vorn anfangen muß.» Und Péguy fährt fort: «Es ist eine ewige Vorläufigkeit. Nichts Erworbenes ist für immer erworben. Dies ist die Verfaßtheit des Menschen. Und dies ist zutiefst die Verfaßtheit des Christen. Nichts steht in tieferem Widerspruch zum christlichen Denken als die Vorstellung von einem ewigen Erwerb, der niemals mehr angefochten wird.»
     Von Balthasar schreibt: «Er (Péguy) bleibt unteilbar, und steht deshalb inner- und außerhalb der Kirche, ist ist in partibus infidelium Kirche, also dort, wo sie sein soll. Er ist dank seiner Wurzelfassung in Tiefen, wo Welt und Kirche, Welt und Gnade sich begegnen und bis zur Ununterscheidbarkeit durchdringen. Vielleicht ist, nach einer langen Geschichte der platonischen Variationen in der christlichen Geistesgeschichte, die Kirche nie eindeutiger in die Welt eingewiesen worden, wobei doch die Weltidee von jedem Anflug ungeprüfter Begeisterung , von Mythologie und Erotik ebenso wie von Fortschrittsoptimismus freibleibt. Biblische Nüchternheit und Keuschheit des Denkens schenkt bestechliche Hellsicht für die Welt, wie sie wirklich ist, grandeur et misère.»

«Eine vornehme Religion
für bekanntlich vornehme Menschen»

Mit siebzehn Jahren war Péguy noch kein Christ. In dieser Zeit schrieb er: «Alle meine Gefährten haben wie ich ihren katholischen Glauben abgelegt [...]. Die in meinen Vorfahren verwurzelten dreizehn oder vierzehn Jahrhunderte Christentum, die elf oder zwölf Jahre der ehrlich und treu empfangenen katholischen Lehre und manchmal auch der katholischen Erziehung sind an mir spurlos vorübergegangen.» In diesen Jahren wird die Begeisterung des sensiblen Jünglings vom republikanischen und revolutionären Mythos getrübt, bis er schließlich beim mystischen Sozialismus landete, der die Kirche samt Monarchie in den hinfälligen Bereich des Ancien Régime, einem instrumentellen Unterdrückungsblendwerk der kapitalistischen Bourgeoisie, verbannte. Und in dieser menschlichen und gesellschaftlichen Verwirrung heiratete der junge Student Péguy nur standesamtlich die achtzehnjährige Charlotte Baudouin, die Schwester des verstorbenen Marcel, des Freundes und sozialistischen Glaubensgefährten, den Péguy verehrte. Die starke Zuneigung der jungen Eheleute gründete anfänglich im gemeinsamen Kampf im Dienst des gemeinsamen laizistischen und atheistischen Glaubens.
     Als Péguy zehn Jahre später dem Christentum der damaligen Zeit begegnete und selbst Christ wurde, kam er aus diesem unchristlichen Umfeld, das das Christentum als bedeutungslose Vergangenheit betrachtete. Als er später die Tragödie der Moderne beschrieb, die Tragödie einer völlig unchristlichen Welt («der Verzicht der ganzen Welt auf den gesamten christlichen Glauben»), sprach er wie einer, der die Ursachen erkannt hat, da er ja selbst aus dieser Welt stammte. Auch er war einer der «ersten Menschen ohne Christus», die sich von den Ungläubigen und Sündern der christlichen Zeit unterscheiden und von ihnen weit entfernt sind.
     Für Péguy war der christliche Glaube ein Neuanfang der Gnade, eine wunderbare Knospe, die in der Wüste seines anstrengenden Lebens erblühte, in einem Leben, in dem er mit unzähligen Aufgaben wie mit der Herausgabe seiner im Jahr 1900 gegründeten Zeitschrift Cahiers de la Quinzaine betraut war. Aber gerade weil es sich um einen Neuanfang der Gnade handelte, sah er keinen Grund, mit der teilweise ungläubigen Vergangenheit zu brechen, sah er darin nicht die Rückkehr des militanten Sozialisten, der in der Religion sein politisches Scheitern kompensiert, in den Schafstall der katholischen Kirche: «Zu einer Vertiefung des Herzens auf demselben Weg und keineswegs aufgrund einer Entwicklung oder aus einem Sinneswandel heraus haben wir den Weg zum Christentum gefunden. Wir haben ihn nicht dank einer Rückkehr gefunden. Wir haben ihn vielmehr am Ende entdeckt. Und aus diesem Grund soll man auf der einen wie auf der anderen Seite wissen, daß wir nie auch nur ein Atom unserer Vergangenheit verleugnen.» Auch in seiner neuen Erfahrung als Christ ist Péguy von seiner Leidenschaft für die irdische Befreiung des Menschen erfüllt. Er entzieht sich mit aller Macht dem Einfluß der klerikalen Rechten, die ihn "zurückzugewinnen" versucht. Er hat mit den Restauratoren nichts gemein, die die Rückkehr unter das utopische Regime der Christenheit als Ausweg aus der Katastrophe der Moderne vorschlagen. In Notre jeunesse (1910) erkennt er realistisch den Zustand der Kirche in der modernen Welt: «Man braucht nicht zu verheimlichen, daß die Kirche, auch wenn sie nicht mehr die offizielle Staatsreligion darstellt, trotzdem immer noch die offizielle Religion des Spießbürgertums des Staates ist», schreibt Péguy. Und er geht in seinen Ausführungen noch einen Schritt weiter: «Im Gegenteil, gesellschaftlich ist sie nichts anderes mehr als eine Religion für Spießbürger, eine Religion für Reiche, eine Art Religion für höhere Klassen der Gesellschaft, der Nation, eine klägliche Art vornehmer Religion für bekanntlich vornehme Menschen. Was gibt es infolgedessen Oberflächlicheres, in gewissem Sinn Offizielleres, weniger Tiefes, Unwirkliches? Was wäre armseliger, kläglicher, formaler? Was widerspricht andererseits mehr ihrer Institution – der Heiligkeit, der Armut, auch dem formalsten Aspekt ihrer Institution?»
     Seine Frau und ihre Familie stellten sich jedoch gegen Péguys neue Erfahrung und beschränkten den Fall auf die Frage einer religiösen "Krise". Frau Péguy versteifte sich auf einen Angriff auf die Kommunarde und die republikanische Tradition ihres Familienclans und verklärte auch weiterhin jene Mythen der Vergangenheit, mit denen ihr Mann offenbar gebrochen hatte. Dies war für Péguy besonders schmerzlich, weil er von den eigenen Familienangehörigen wie ein Ausgestoßener behandelt wurde, ohne es jedoch zu sein: «Aber wie sollte dies den geliebten Personen in einem politischen und gesellschaftlichen Klima verständlich gemacht werden, in dem der, der katholisch sagt, klerikal meint, und wer von Jesus spricht, sofort an die moralische Ordnung von Mac Mahon erinnert?» (Jean Bastaire Péguy, il noncristiano, Mailand 1991). Péguy brauchte seine Frau gar nicht erst zu fragen. Er wußte schon von vornherein, daß sie einer kirchlichen Trauung und der Taufe der aus ihrer Ehe hervorgegangenen drei Kinder nie zustimmen würde. Dieser Umstand begründete strukturell sein ewiges Christsein "auf der Schwelle": obwohl katholisch, "durfte er die Kirche nicht betreten", das heißt, er war vom Empfang der Sakramente ausgeschlossen. Solange er selbst noch nicht gläubig war, konnte ihm diese unregelmäßige Situation nicht angelastet werden. Nun aber, da er sich zum Glauben bekannte, wurde seine Zivilehe ein von der Kirche verbotenes Konkubinat. Daß er seine Kinder nicht taufen ließ, wurde zu einer schweren Vernachlässigung seiner Pflichten als christlicher Elternteil.
     In dieser schmerzlichen Situation, die ihn sein ganzes Leben begleiten sollte, suchte Péguy bei einigen katholischen Freunden Trost.

Die Partei der Frommen
Péguys vertrauliche Mitteilungen hat ein junger, vielversprechender Intellektueller gesammelt, der bereits Mitarbeiter in der Redaktion der Cahiers und kurz zuvor zum katholischen Glauben konvertiert war: Jacques Maritain. Er war mit einer jungen Jüdin russischer Abstammung namens Raissa verheiratet, die ebenfalls kurz zuvor den katholischen Glauben angenommen hatte. Im Mai 1907 vertraute Péguy ihm seine Leiden an und forderte ihn auf, als "geistlicher Botschafter" Kontakt zu einem alten Freund in Orléans, Louis Baillet, aufzunehmen. Dieser war Mönch geworden und inzwischen mit der Gemeinschaft von Solesmes auf die Insel Whight übergesiedelt, um den restriktiven Gesetzen der Republikaner über die religiösen Vereinigungen zu entgehen. In seiner Verwirrung erwartete Péguy von seinen beiden Freunden, die er mit der Untersuchung seines "Falles" beauftragt hatte, wer weiß welchen Trost. Statt dessen legten sie ihm aber eine offene Rechnung vor, eine kühle Liste von Pflichten, die er erfüllen mußte, wollte er wirklich «in die Kirche zurückkehren.» Die jüngste Veröffentlichung Péguy au porche de l’Église hat die bis dahin unveröffentlichte Korrespondenz zwischen Baillet und Maritain über den Fall Péguy gesammelt. Sie enthält daneben aber auch bereits bekannte Auszüge aus dem Tagebuch von Maritain und bildet somit eine Chronik der Leiden des Leiters der Cahiers, die ihm seine beiden Freunde (und mit ihnen noch andere wie der andere Benediktiner von Clerissac) zufügten, da sie von ihm forderten, sein Leben in Ordnung zu bringen.
     Baillet führt in seinem Brief an Maritain vom Juli 1908 zum Beispiel den Vergleich eines protestantischen Pastors an, der seine Frau und Kinder verlassen mußte, wenn er katholischer Priester werden wollte. Er legte zusammenfassend dar, worin für die beiden Freunde die einzige Lösung des "Falls Péguy" bestand: «In der jetzigen Situation verharren, ist unmöglich: das göttliche Gesetz ist formal: nichts kann unseren Freund daran hindern, sich mit der Kirche zu versöhnen. [...] Seine erste Pflicht ist nicht, die heilige Messe zu besuchen, sondern seine Verbindung zu regulieren: er muß es schnellstmöglich tun. Welche Folgen es auch immer haben würde, er muß seiner Frau seinen Entschluß mitteilen, wieder in die Kirche zurückzukehren und sich daher kirchlich trauen zu lassen. Deshalb soll sie sich nach der erforderlichen Unterweisung durch die Kirche taufen lassen. Wenn sie dem zustimmt, ist dies ein deutlicher Beweis ihrer Liebe, so daß es ihm möglich wäre, sich wieder mit ihr auszusöhnen. [...] Lehnt sie aber ab, ist er frei, und es ist dann genug Zeit, um die Einzelheiten seiner Situation zu regeln. [...] Von ihm wird ein sehr schweres Opfer verlangt: Möge er es bringen, ohne ständig auf die möglichen Folgen seiner Handlung zu schauen.»
     Auch die Eheleute Maritain setzten ihren Freund von Anfang an unter Druck. Bereits im September 1907 schreibt Maritain nach seiner Rückkehr von seinem Treffen mit Baillet an Péguy: «Gott hat den Menschen, allen Menschen, seine Zehn Gebote gegeben. [...] Durch diese Gebote spricht der liebe Gott zu jedem von uns. Von dem, was er allen befohlen hat, ist niemand befreit. [...] Wenn der Herr eine Regel für das ganze Haus erlassen hat, werden die Diener ihn nicht nach persönlich abgestimmten Anordnungen fragen. Es bedarf keiner besonderen Berufung, die vor der allgemeinen Berufung steht. Zu glauben, Gott befehle um seiner Herrlichkeit willen, die Ausführung seiner Gebote auch nur einen Tag zu verschieben, ist sicherlich eine Illusion [...] Denn Rückkehr in die Kirche bedeutet, tun, was Gott verlangt, was er uneingeschränkt und in erster Linie befiehlt: Gehorsam gegenüber seinen Geboten [...]. Rückkehr in die Kirche, als treuer und nicht als verlorener Sohn das Leben und die Nahrung der Gnade empfangen, ist nicht irgendein Werk, das mit der Zeit reifen muß, sondern eine Pflicht, die schon in dem Augenblick ganz reif ist, da sie gesehen wird.»

Nur das sinnlich Wahrnehmbare berührt ihn
Seit dem Jahr 1907 bis zu seinem Lebensende, in der kurzen Zeit, die Péguy noch zu leben hatte (er fiel am 5. September 1914 in der Schlacht an der Marne) bestürmten ihn seine Freunde immer mehr, ja sie entwickelten sogar Strategien und Schachzüge und tadelten ihn immer heftiger, um ihn zur Aufgabe und zur Bezahlung seines "Lösegelds" für den Eintritt in die Kirche zu bewegen. Für Maritain war Péguy ein «Dummkopf», einer, der «die Gnade verscherzt», der sich der Illusion hingibt, «das Heil sei leicht zu erwerben», der «sich mit den unwesentlichen Dingen begnügt. So hat er in der Karwoche für die Einhaltung des Abstinenzgebots in der Familie gesorgt und seinen Kindern christliche Klagelieder beigebracht». Wenn Péguy Maritain anvertraut, er wolle eine Wallfahrt nach Chartres machen, um für einen kranken Freund Gnaden zu erbeten, so begegnet dieser ihm mit Mißtrauen und erklärt: «Man kann unmöglich eine Wallfahrt geloben, ohne gleichzeitig zu versprechen, die heilige Kommunion zu empfangen.» Seine Freunde wünschten sich sogar, daß familiäre und berufliche Schwierigkeiten Péguy beugten und ihn zwängen, ein «gesundes Glied» der Kirche zu werden und das Gesetz anzunehmen, wonach die Bekehrung «ein gewisses Sich-selbst-Verlieren mit sich bringt». Vor allem ertrugen sie die Einwände und Gründe nicht, die Péguy vorbrachte: «Er antwortet, er wolle seine Frau nicht verlassen, er wolle, daß seine Frau getauft werde und in die Kirche eintrete, und deshalb dürfe er keine gewaltsamen Mittel anwenden.» Auch der Kreis der Cahiers, zu dem «Juden und unchristliche Studenten» gehörten, wurde als Hindernis, als Grund der Verdammnis betrachtet, zu dem alle Verbindungen besser abzubrechen seien. Man spottete über Péguys bescheidene Hoffnung, durch sein Bleiben in der unchristlichen Welt, aus der er kam, auch andere zum Glauben zu führen: «Er hält sein literarisches Werk für so wichtig, daß er mit der Befolgung der Gebote der Kirche noch einige Zeit zögert.» Maritain ging soweit, Frau Péguy die Zustimmung zur Taufe der Kinder persönlich abringen zu wollen, was natürlich nur zu einer noch tieferen Verhärtung beitrug.
     Als Péguy Le Mystère della charité de Jean d’Arc (Das Mysterium der Erbarmung) veröffentlichte, schrieb ihm Maritain, es handele sich um ein Werk «voller Unehrfürchtigkeiten», das «den Glauben so mittelmäßig wie nur möglich mache», in dem «niederträchtig von der Jungfrau Maria gesprochen werde». Und er kam zu dem Schluß, daß «Ihr noch einen weiten Weg zurücklegen müßt, um ein treuer Christ zu werden». An dieser Stelle kommt der eigentliche Grund für das Unverständnis zum Vorschein. In seinen letzten Briefen an Baillet und andere Priester wirft Maritain Péguy vor, sich nicht unter das «intellektuelle Joch» begeben zu wollen, das die Bekehrung zum Christentum impliziert. «Ich bemerke, daß seine Abneigung gegen "intellektuelle Formulierungen" die Abneigung gegen den Verstandesgehorsam, das heißt die Abneigung gegen die Wahrheit, gut verbirgt [...]. Péguy schreckt das intellektuelle Joch des Glaubens zurück, ohne das es keinen wahren Glauben gibt.» In einem weiteren Brief an Baillet vom Juni 1910 schreibt Maritain: «Ich habe es Euch bereits gesagt, daß ihn die theologische Wahrheit nicht interessiert. [...] Er glaubt, daß der Glaube eines Köhlers größer ist als der Glaube des heiligen Thomas; er glaubt, daß das Wort Gottes nichts anderes ist als Worte: nur das sinnlich Wahrnehmbare berührt ihn.»

«Es sind Gebete des Vorbehalts»
Hier kommt nicht nur das Urteil über Péguys familiäre Angelegenheiten, sondern über seine christliche Erfahrung überhaupt zum Vorschein. Für die Modernen ist das Christentum eine Zugehörigkeit zu ewigen, vielleicht sogar mit der Begeisterung der Neugetauften entdeckten Wahrheiten, mit denen eine ganze Reihe von moralischen Konsequenzen verbunden ist, Pflichten, deren Erfüllung auch heldenmütige Opfer fordern konnte. Es ging letztlich darum, die Praxis an eine wahre Theorie anzugleichen. Péguy hat aber genau das Gegenteil erfahren. Er kam aus einem völlig unchristlichen Umfeld, aus der "Hölle" der Moderne, und wußte daher nur zu gut, daß die ganze christliche Wahrheit nicht genügte, um auch nur das kleinste Fünkchen Hoffnung aufkommen zu lassen. Wie Johanna von Orléans wußte Péguy, daß zwanzig Jahrhunderte des Glaubens, der Liebe, der Heiligkeit und der Theologie nicht reichten, um das Herz des Menschen hier und jetzt glücklich zu machen, es sei denn, es geschähe etwas Neues, die Begegnung mit einem lebendigen, leibhaftigen, sichtbaren und greifbaren Zeichen der Gegenwart – wie vor zweitausend Jahren: ein neues Menschsein, in dem Christus zum Herzen spricht, für das der Mensch geschaffen ist. «Nur das sinnlich Wahrnehmbare berührt ihn», schreibt Maritain angewidert. Und Péguy erwidert darauf: «Das Wirken der Gnade, das ist die Antwort, die man den Dummen geben muß, die die Vernunftgemäßheit des Glaubens verlangen.» Dieser Neuanfang der Gnade, diese neue Gnade («Eine vollkommene Gnade. Eine neue Gnade. Und, wenn ich es so sagen darf, eine jugendliche Gnade. Denn die Ewigkeit selbst liegt im Irdischen. Und es gibt neue Gnaden und Gnaden, die gleichsam veraltet sind») darf man nicht beanspruchen – das liegt in ihrer Natur –, sondern man kann nur auf sie warten und darum bitten. Noch weniger darf man sie anderen aufzwingen, der atheistischen Frau, den unchristlichen Freunden und Lesern der Cahiers de la Quinzaine. Andernfalls würde sich nur der Verdacht erhärten, der die ganze Moderne durchzieht: Das Christentum ist nur ein «intellektuelles Joch», das ermüdet und das Leben zur Qual macht.
     Péguy setzt die anderen nicht unter Druck und macht ihnen keine Auflagen. In schmerzerfüllter Geduld wartet er, daß die Gnade die Herzen berührt, wie es bei ihm geschehen ist. So bleibt er auf der Schwelle und wartet, daß ein Anderer wirkt und auch die Seinen wie ihn auf dieselbe Schwelle führt, zum selben ständigen Anfang. Er achtet die Zeiten und Umstände, unter denen das langersehnte Wunder eintreten kann. Als armer Sünder verrichtet er die christlichen Gebete: «Es sind Gebete des Vorbehalts. In der gesamten Liturgie gibt es nicht ein Gebet, das der arme Sünder nicht wirklich sprechen dürfte. Im Heilsgeschehen ist das Ave Maria die letzte Rettung. Damit kann man nicht verlorengehen.»
     Die Intellektuellen verstanden ihn nicht, sie hielten alles für Laxheit, für ein skeptisches Abwarten. Péguy verurteilte ihre Haltung in seinem Werk Véronique. Dialoque de l’histoire et de l’âme charnelle (Veronika. Der Dialog der Geschichte und der irdischen Seele): «Das Eigentümliche dieser Beiträge ist, daß sie immer das Wirken der Gnade verhindern, daß sie sie immer in einer gewissermaßen schrecklichen Geduld überraschen. Sie zertreten die Gärten der Gnade mit erschreckender Brutalität. Man könnte sagen, sie bemühen sich einzig darum, die ewigen Gärten zu sabotieren. So arbeiten die Pfarrer an der Zerstörung des wenigen, das noch bleibt. Und vor allem wenn Gott durch das Geheimnis der Gnade die Seelen bearbeitet, so fehlt es nie an jenen guten Pfarrern, die meinen, Gott denke nur an sie und arbeite nur für sie [...].»

Von der Gnade zur Kühnheit
Am Abend vor seinem Tod ist Péguy mit den anderen Soldaten bei Eremiten in der Nähe von Vermans stationiert. Er verbringt die ganze Nacht damit, Blumen zu sammeln und sie zu Füßen einer Muttergottesstatue zu legen, die der Zerstörungswut der Jakobiner entgangen war und seitdem in der Kapelle auf dem Dachboden stand. Es war für ihn die letzte Gelegenheit, die Seinen der Mutter Gottes zu empfehlen. Seine Bitte, die er die ganzen letzten Jahre in schmerzerfülltem Schweigen äußerte, sollte Erhörung finden: nach seinem Tod empfingen von 1925 bis 1926 seine Frau und drei der vier Kinder (das letzte wurde nach dem Tod des Vaters geboren) in der katholischen Kirche das Sakrament der Taufe, das erstgeborene hingegen in einer protestantischen Gemeinschaft.
     Die Gnade, um die Péguy so viele Male gebeten hatte, da er ihr im Schweigen des eigenen Herzens seine Kinder empfahl, wie er in Le Porche du Mystère de la deuxième Vertu (Das Mysterium der Hoffnung) schrieb, wurde gewährt: «Zugegeben, daß er ordentlich kühn war, und daß es ein toller Streich war. Und doch können alle Christen das gleiche tun. Man kann sich sogar fragen, warum sie es nicht tun. Wie man drei Kinder vom Boden aufhebt und sie alle drei. Miteinander. Auf einmal. Nur zum Spaß. Und gleichsam zum Spiel. In die Arme ihrer lachenden Mutter legt und ihrer lachenden Amme. Die sich lachend wehrt. Weil man ihr zuviel auf den Hals lädt. Und sie kaum die Kraft hat, alle zu tragen. So hat er, kühn wie ein Mann sie genommen, durch ein Gebet sie genommen. Seine drei Kinder in ihrer Krankheit, im Elend, in dem sie lagen. Und seelenruhig legt er sie euch. Durch sein Gebet legt er sie euch. Seelenruhig in die Arme derer, die beladen ist mit allen Schmerzen der Welt. Und deren Arme schon so vollgeladen sind. Denn der Sohn übernahm alle Sünden. Aber die Mutter übernahm alle Schmerzen.»


Auf diesen Seiten, Ausschnitte der Basreliefe und der Glasfenster der Kathedrale von Chartres (13. Jh.), Frankreich. Hier, Jesus Christus in seiner Herrlichkeit, Königsportal.
«In Fragen der Christenheit ist niemand so zuständig wie der Sünder. Niemand weniger als der Heilige. Allgemein handelt es sich sogar um dieselbe Person.»

(Péguy)


Die Erschaffung Adams, Nordportal.
Péguy bleibt in der Vorhalle zur Kirche, welche auch der Geburtsort ist, der Ort, wo der Nichtchrist aus Gnade Christ wird. Das heißt der Ort, wo der Nichtchrist aus Gnade staunend wahrnimmt, daß der christliche Glaube unerwartet seinem Herzen entspricht.

Die Verkündigung.
«Vielleicht ist, nach einer langen Geschichte der platonischen Variationen in der christlichen Geistesgeschichte die Kirche nie eindeutiger in die Welt eingewiesen worden. Biblische Nüchternheit und Keuschheit des Denkens schenkt unbestechliche Hellsicht für die Welt, wie sie wirklich ist, grandeur et misère.»

(von Balthasar)


Die Geburt

Die Anbetung des Jesuskindes
Dieses schwindelerregende Bleiben auf dieser ewigen Schwelle («also dort, wo sie sein soll», wie von Balthasar schreibt), konnten die katholischen Intellektuellen und Aktivisten auch damals nicht dulden.

Die Apostel Paulus und Johannes, Südportal.

Die Apostel Jakobus der Ältere und Jakobus der Jüngere, Südportal.
«Ich bemerke, daß seine Abneigung gegen intellektuelle Formulierungen" die Abneigung gegen den Verstandesgehorsam,
das heißt die Abneigung gegen die Wahrheit, gut verbirgt.»

(Maritain)


«Seht das Lamm Gottes»

Die Apostel Petrus, Andreas und Philippus, Südportal.
«Ich habe es euch bereits gesagt, daß ihn die theologische Wahrheit nicht interessiert. Er glaubt, daß der Glaube eines Köhlers größer ist als der Glaube des heiligen Thomas; er glaubt, daß das Wort Gottes nichts anderes ist als Worte: nur das sinnlich Wahrnehmbare berührt ihn».

(Maritain)


Die Hochzeit von Kana

Die Auferstehung des Lazarus
Péguy schreibt über den Kreis der Frommen: «Das Eigentümliche dieser Beiträge ist, daß sie immer das Wirken der Gnade verhindern. Sie zertreten die Gärten der Gnade mit erschreckender Brutalität. So arbeiten die Pfarrer an der Zerstörung des wenigen, das noch bleibt.»

Jesus Christus, Südportal.