«Im Namen der Vernunft kämpfte Péguy
gegen die Partei der Intellektuellen. Denn ihre Arroganz ist eine Arroganz gegenüber der
Wirklichkeit.» Ein Interview mit dem Generalsekretär der Amitié Charles Péguy, Jean
Bastaire.
«Péguy?
Wenn man mich um eine Definition bittet, sage ich nicht, er war ein großer Dichter,
sondern ein großer Philosoph. Bergson behauptet, Péguy habe gewisse Aspekte seiner
Philosophie besser verstanden als er selbst. Er hätte einen Lehrstuhl an der Universität
erhalten, wäre er nicht auf der Seite der Verlierer in der Dreyfus-Affäre in den Kampf
gezogen. Und dennoch beschuldigte man den großen Philosophen des religiösen
Irrationalismus. Man warf ihm vor, sich im Namen eines mystischen Fideismus gegen den
Gebrauch der Vernunft zu stellen. Es handelt sich aber um eine enorme Mystifizierung, die
jene betrieben hatten, die er die Partei der Intellektuellen nannte. Diese Mystifizierung
dauert auch heute noch an. Nun aber ist die Zeit gekommen, sie zu entlarven und die
Wahrheit wieder ans Licht zu bringen.»
Das
sind Worte aus dem Munde des siebzigjährigen Jean Bastaire, der schon seit fast dreißig
Jahren Generalsekretär der Amitié Charles Péguy ist. Er ist einer der wenigen in
Frankreich, die die Erinnerung an Péguy lebendig halten. Vor kurzem hat Bastaire im
Verlag Les Éditions du Cerf eine "geistliche Autobiographie" unter dem Titel
Lapprentissage de laube veröffentlicht. In diesem Buch erzählt er von seiner
"Begegnung" mit Péguy, der Partei der Intellektuellen und ihrer großen
Mystifizierung.
Was
ist für Péguy die Partei der Intellektuellen?
JEAN
BASTAIRE: Nach dem berühmten Dreyfus-Prozeß, einem politisch-rechtlichen Fall, der das
Frankreich der damaligen Zeit durch Polemik und heftige Auseinandersetzungen
erschütterte, erfuhr Péguy erst, daß es eine solche Partei gab. Der überwiegende Teil
begann, alle Machtpositionen einzunehmen: in den Zeitungen, an den Universitäten, in der
Regierung. Aber nicht das beunruhigte Péguy, denn es geschieht leider immer, wenn
Intellektuelle politisch aktiv werden und eine Seite die andere beherrscht. Ihn
beunruhigte die Entdeckung, daß alle nicht nur durch das Streben nach Macht geeint waren,
sondern durch eine einzige Weltanschauung, einen einzigen Begriff vom Leben. Péguys
Abneigung gegenüber der Partei der Intellektuellen entsprang nicht der Tatsache, daß sie
Sitze hatte, sondern daß sie die Gewissen verdunkelte.
Wie
ist ihr das gelungen?
BASTAIRE:
Durch einen falschen Begriff von der Vernunft. Die Partei der Intellektuellen, sagt
Péguy, habe eine starre Vorstellung von der Vernunft, sie wolle die Wirklichkeit in
Formeln pressen. Um aber die Wirklichkeit zu verstehen, muß die Vernunft weich sein und
sich an ihr formen. Die Erfahrung des sinnlich Wahrnehmbaren ist die erste Gegebenheit,
und die Vernunft muß ihr gleichsam als Dienerin folgen, um sie zu erhellen. Ich will dies
an einem Beispiel verdeutlichen: In der damaligen Zeit herrschte die Vorstellung von einer
wissenschaftlichen Vernunft, die abgöttisch und fetischistisch auf den Fortschritt
vertraute: die Geschichte würde unaufhaltsam ihrer Vollendung zugeführt werden. Für
Péguy widersprach dieser Begriff der Wirklichkeit. Seine Falschheit ist sofort auf
persönlicher und gesellschaftlicher Ebene wahrzunehmen, weil er die tragische Dimension
der Existenz beseitigt und die Wirklichkeit des Menschen nicht in ihrer Ganzheit
berücksichtigt. Unter diesen Voraussetzungen versteht man weder die Natur des Menschen
noch das soziale Umfeld, in dem er lebt. Die nachfolgende Geschichte des zwanzigsten
Jahrhunderts hat Péguy in dieser Hinsicht recht gegeben: Nationalsozialismus und
Stalinismus haben dramatisch gezeigt, daß der Fortschritt nicht unaufhaltsam seinen Weg
geht, sondern Makel aufweist, Rückschritte macht und in schwindelerregende Abgründe
stürzt.
Péguy
kam aber selbst aus einem sozialistischen und wissenschaftlichen Umfeld, das er dann
heftig kritisierte. Wie reagierten seine Freunde auf seine Bekehrung zum Christentum?
BASTAIRE:
Als Péguy sich mit der Veröffentlichung von Le Mystère della charité de Jean
dArc ausdrücklich als Christ erklärte, sagten sich seine Freunde: «Seht, er
verrät die Vernunft und verfällt der Mystik und dem Sentimentalismus. Für uns und
unsere Schlacht ist er ein verlorener Philosoph.» Mit Schmähartikeln appellierten sie
feierlich an seine Intelligenz, die sich, wie sie behaupteten, nicht nur auf die Seite der
"Pfarrer" schlage, sondern auch auf die des Irrationalismus.
Und
was erwiderte ihnen Péguy darauf?
BASTAIRE:
Er reagierte heftig. Weil er seine Schlacht im Namen der Vernunft führte, um die Vernunft
gegen den zu verteidigen, der den Gebrauch der Vernunft verfälschte. Was er verlangte,
war kein "weniger", sondern ein "Rest" von Vernunft. Er war von Haus
aus Philosoph und duldete diese Mystifizierung nicht, die aus ihm einen Irrationalisten
machte. In seiner Note sur M. Bergson et la Philosophie bergsonienne schreibt er
verärgert: «Man gibt vor, die Infragestellung des Intellektualismus sei eine
Infragestellung der Vernunft, der Weisheit, der Logik und der Intelligenz.» Im Gegenteil,
gerade im Namen der Vernunft kämpfte Péguy gegen die Partei der Intellektuellen. Denn
die Arroganz dieser Intellektuellen ist eine Arroganz gegenüber der Wirklichkeit. Wer
nach Péguy die Vernunft mystifiziert, gelangt zu Schlüssen, die der Wirklichkeit
widersprechen oder fremd sind. Péguy hingegen verteidigt die Vernunft und verkündet
«die religiöse Achtung vor der souveränen und absolut lehrreichen Wirklichkeit, vor dem
Realen, wie es kommt, wie es uns gegeben ist, vor dem Ereignis, wie es uns gegeben ist».
Nicht wir setzen die Wirklichkeit, sondern wir müssen sie erkennen. Und zu dieser seiner
Abhängigkeit muß der Mensch stehen. Das menschliche Geschöpf kann auch nicht den
kleinsten Teil der Wirklichkeit schaffen, sondern es empfängt sich darin selbst. In
dieser Hinsicht hat Péguy einen reizenden Neologismus geschaffen: «Die moderne Welt ist
nicht a-theistisch, sondern auto-theistisch. Der Mensch schafft Gott aus sich selbst.»
Als ob der Mensch sich selbst schüfe und dabei die Tatsache leugne, daß wir uns selbst
von einem anderen empfangen. Und es ist doch ganz offensichtlich, daß der Mensch nicht
aus sich selbst heraus entsteht, daß ihm seine Wirklichkeit gegeben ist! Durch ein Netz
von wissenschaftlichen Gesetzen, absoluten und kategorischen Behauptungen bestätigt und
bestärkt sich der Mensch in seiner völlig verrückten und völlig vergeblichen
Gewißheit, Urheber der Wirklichkeit und in gewisser Weise ihr Herr und Herrscher zu sein.
Gibt
es in rationalistischen Kreisen denn wirklich niemanden, der nicht so intelligent wäre
und erkennen würde, daß die Wirklichkeit von jedem theoretischen System abweicht?
BASTAIRE:
Gewiß, die Intelligentesten erkennen es. Aber das ist der springende Punkt. Sie reagieren
darauf mit dem, was Péguy «die Strategie des leichten Schubs» nennt. Es ist, wie wenn
eine Uhr ein bißchen nachgeht, wenn sie nicht perfekt funktioniert und stehenzubleiben
droht. Man versetzt ihr einen leichten Schlag, man gibt ihr einen kleinen Schubs, und
siehe da, sie scheint wieder perfekt zu funktionieren. Wenn die Wirklichkeit nicht mit dem
vorgefaßten Begriff übereinstimmt, dann versetzt man ihr einen leichten Schlag, um sie
wieder hineinzuzwängen. Es genügt, wenn man eine kleine Zensur vornimmt oder eine
Gegebenheit der Wirklichkeit, die man entdeckt hat und die nicht dem vorgefaßten System
entspricht, beseitigt, und alles scheint wieder in Ordnung. Nach Péguy ist dies aber
nicht nur Verrat an der Wirklichkeit, sondern vor allem Verrat an der Vernunft. Verfährt
man wie oben beschrieben, schwächt man die Stringenz der Vernunft. Wenn die Wirklichkeit
störrisch in das vorgefaßte System gepreßt wird, verwandelt sich die Vernunft aus einer
Dienerin in eine Herrin. Die Wirklichkeit ist aber kein System. Sie übersteigt uns und
weicht an allen Seiten davon ab.
Die
Partei der Intellektuellen war aber nicht nur in der Welt der Wissenschaft präsent.
BASTAIRE:
Ganz im Gegenteil. Péguy bezeichnet sie als Hydra mit vielen Köpfen. Und einer von ihnen
ist in der katholischen Welt, und dieser ist vielleicht sogar der gefährlichste. Ebenso
energisch wie die Partei der Intellektuellen greift Péguy den rationalistischen
Szientismus an, den der katholische Traditionalismus beinahe meinte,
"annektieren" zu können. Gewiß, als er anfänglich vom katholischen Flügel
der Partei der Intellektuellen sprach, dachte er insbesondere an die Neothomisten, die in
Jacques Maritain ihren Hauptvertreter hatten. Auch sie hatten einen starren Begriff von
der Vernunft: der Glaube war ein System, in das sie die gesamte Wirklichkeit packten.
Péguy bekam dies unmittelbar zu spüren. Man muß nur sehen, wie sie seine Eheprobleme
behandelten (Péguy hatte eine atheistische Frau geheiratet, die die Zustimmung zur Taufe
ihrer Kinder verweigerte): mit unerhörter Härte, wobei sie den Glauben auf Formeln
verkürzten, in denen die Person gleichsam annulliert wurde. Die Neothomisten begingen
einen Fehler, der sich auch heute oft noch wiederholt: Sie dachten, den Dogmen der Kirche
folgen heiße, eine strenge Haltung einzunehmen. Dies ist keineswegs so. Das Dogma darf
keine Erstarrung einer lebendigen Wahrheit sein. Die Neothomisten behaupteten, die
Vernunft müsse dem Glauben gehorchen. Dem ist aber nicht so. Die Vernunft muß der
Wirklichkeit nur nach der Gesamtheit der Möglichkeiten gehorchen. So entfremdet sie sich
nicht ihrer selbst, und so kommt es zu keinem Widerspruch zwischen Vernunft und Glauben.
Am Anfang ärgerte sich Péguy jedenfalls über die Strenge der Neothomisten. Aber dann
bemerkte er, daß die Partei der Intellektuellen in der Kirche vielschichtiger ist. Er
machte eine erschütternde Entdeckung, die ihn in seiner Überzeugung bestärkte.
Welche?
BASTAIRE:
Er sprach schon in der ersten Auflage seines ersten christlichen Werkes, Clio, davon, das
er 1909 verfaßte. Es gibt etwas, das die katholische Partei der Intellektuellen «nicht
zugestehen und nicht sehen will». Gemeint ist die Unchristlichkeit der Moderne. Die
Errichtung dessen, was er in seinem letzten Werk Véronique, das er wenige Monate vor
seinem Tod im Jahr 1914 schrieb, «eine unchristliche, entchristlichte, völlig und
gänzlich unchristliche Welt» bezeichnete. Péguy spricht nicht von déchristianisation
(Entchristlichung), denn dieser Begriff impliziert, daß es das Christentum noch gibt,
sondern von inchrétienté (Unchristlichkeit). Die Unchristlichkeit hingegen impliziert,
daß das Christentum völlig verschwunden ist, daß es nichts mehr gibt. Wir leben heute
in der Welt, die Péguy beschrieben und deren Entstehung Péguy gesehen hat. In unseren
Gesellschaften sind die Menschen unter fünfzig nicht entchristlicht, sondern völlig
unchristlich. Sie sind ebenso unchristlich wie die Bewohner von Papua oder China. Das
Christentum beschränkt sich auf irgendeinen vagen Begriff, von dem man in einem Buch
gelesen oder den man in einer eigenartigen Zeremonie gesehen hat. Man trauert sogar den
Zeiten der heftigen antichristlichen Auseinandersetzungen nach, die von einem Kampf gegen
das Christentum zeugen. Zur Zeit Péguys kannten die Gegner das Christentum, sie wußten,
wovon sie sprachen. Befürworter und Gegner sprachen auch in der Auseinandersetzung
dieselbe Sprache. Heute hingegen wissen unsere Zeitgenossen nicht einmal, was das
Christentum ist. Oder sie wissen es, weil sie in der Zeitung darüber gelesen haben, woher
sie teilnahmslos und ohne Interesse zusammen mit den neuesten Sportnachrichten (die sie
übrigens mehr als alles andere begeistern) ihre Informationen beziehen.
Péguy
war sich der Unchristlichkeit als neuem Zustand bewußt geworden. Auch die letzte Form
laizistischer Hoffnung, der Marxismus, ist heute gescheitert, und er ging unter so wüstem
Spott unter, daß ihn niemand mehr zu vertreten wagt. An die Stelle des Christentums trat
keine neue Hoffnung, wie die Szientisten hofften: Es gibt schlicht und einfach keine
Religion, keine Hoffnung mehr. Wie Péguy sagen würde, «keiner ist mehr bereit, für
seinen Glauben zu sterben, sei er nun heidnisch oder christlich, wissenschaftlich oder
patriotisch». Nicht weil unsere Zeitgenossen egoistische Monster wären: Sie würden nur
allzu gerne glauben, sie suchen etwas, woran sie glauben können. Sie sind nicht nur
unchristlich, sondern auch "unweltlich", weil sie nichts sind. Und niemand gibt
ihnen etwas vor, was sich zu folgen lohnte, wofür es sich zu sterben lohnte.
Auch
was von der Kirche vorgegeben wird, hat nicht immer die Faszination des Anfangs. Monsignor
Luigi Giussani sagte 1987 bei der Bischofssynode: «Was heute der Kirche fehlt, ist nicht
die wörtliche Wiederholung der Botschaft, sondern vielmehr die Erfahrung einer Begegnung.
Der Mensch von heute erwartet vielleicht unbewußt die Erfahrung der Begegnung mit
Menschen, für die das Christusereignis eine so gegenwärtige Wirklichkeit ist, daß sie
ihr Leben verwandelt.»
BASTAIRE:
Péguy hätte ihnen zugestimmt. Dennoch glaube ich nicht, daß Péguy einer
triumphalistischen, vermittelnden und systematischen Evangelisierung Beifall gespendet
hätte, auch wenn er die Sichtbarkeit des Christentums mit Nachdruck behauptete. Für ihn
war das Herz der Verkündigung die Beziehung von Mensch zu Mensch, das Zeugnis, das von
einer Person zur anderen weitergegeben wird. Der Schrei, den Péguy Johanna von Orléans
vor der Novizenmeisterin Madame Gervaise ausstoßen läßt, verwundert. Wiederholt sagt
sie, sie solle nicht zweifeln, denn «Er ist hier wie am ersten Tag». Johanna aber ruft:
«Vielleicht wäre etwas anderes nötig, mein Gott, du weißt alles. Du weißt, was uns
fehlt. Etwas Neues wäre nötig, etwas, das zuvor nie gesehen wurde. Wer aber wagte es zu
sagen, mein Gott, was kann es nach vierzehn Jahrhunderten Christenheit Neues geben?» Es
ist der Wunsch nach einer Neuheit, die das Leben erneuert, die die dogmatische Wahrheit im
jetzigen Augenblick bewahrheitet. Dies ist ein dramatischer Wunsch. Denn einerseits hat
sich in einem bestimmten Augenblick der Geschichte, auf Golgota und am Ostermorgen alles
erfüllt. Andererseits besteht aber die Notwendigkeit, daß der auferstandene Christus in
allen Jahrhunderten gegenwärtig ist und jede Epoche der Geschichte erneuert. Zwar hat
sich in diesem Augenblick der Geschichte alles erfüllt, und es gibt nichts Neues, seit
Christus gestorben und auferstanden ist. Trotzdem ist aber noch alles zu erneuern. Auch
die Schöpfung ist eine Geschichte, die sechs Tage dauerte. Und der christliche Glaube
lehrt uns, daß nichts im Leben ein für allemal endgültig ist. Alles bereitet uns Sorge.
Eine heilsame Sorge in dem Sinne, daß sie uns zum Heil führt. Péguy beschwört uns, die
Seele nicht einschlafen zu lassen, sondern sie in ihrer Unruhe zu bewahren, sie nicht mit
«einer schönen und ausgereiften Seele» zu verwechseln. «Denn in dem, was müde ist»,
erklärt er, «ist weder Gnade noch Quellkraft.» Und um die Unruhe zu bewahren, muß man
nur auf die Wirklichkeit blicken, die leider «von niemandem mehr verteidigt wird als von
Armen und Notleidenden wie wir, von der Individualität ohne Auftrag.». |
Moses, Samuel und David, Nordportal. |