TITELTHEMA


"Und wenn wir doch bloß
den Beginn deiner Heiligen sähen..."


Betrachtet man die Worte von Jeanne d'Arc zu Beginn von Das Mysterium der Erbarmung von Charles Péguy, so wird die Erhebung der kleinen Theresia zur Kirchenlehrerin durch ihre ganze dramatische Schönheit erhellt.


     1425.
     Im Hochsommer.
     Jeannette, die Tochter des Jacques d'Arc, spinnt des Morgens auf einem Hange der Maas, während sie die Schafe ihres Vaters hütet. Man sieht weiter hinten, von rechts nach links, die Maas zwischen den Wiesen, das Dorf Domrémy mit der Kirche, und die Straße, die nach Vancouleurs führt. Zur Linken in der Ferne das Dorf Maxey. Im Hintergrunde geht der Blick auf die Hügel: Kornfelder, Weinberge und Wälder; das Korn ist gelb.
     Jeanette zählt dreizehneinhalb Jahre; Hauviette, ihre Freundin, zehn Jahre und einige Monate. Mutter Gervaise ist fünfundzwanzig Jahre alt.
     Jeannette spinnt weiter; dann erhebt sie sich, wendet sich der Kirche zu; ohne ein Kreuz zu schlagen, spricht sie die dazu gehörigen Worte:

     JEANNETTE: [...] Im Namen des Vaters; und des Sohnes; und des Heiligen Geistes; Amen.
     Vater unser, Vater unser, der du bist im Himmel; wieviel fehlt noch daran, daß dein Name geheiligt werde: wieviel fehlt noch daran, daß dein Reich komme!
     Vater unser, Vater unser, der du bist im Himmel, wieviel fehlt noch daran, daß dein Reich komme zum Königreiche der Erde!
     Vater unser, Vater unser, der du bist im Himmel, wieviel fehlt noch, daß dein Reich komme zum Königreich Frankreich!
     Vater unser, Vater unser, der du bist im Himmel, wieviel fehlt noch, daß dein Wille geschehe; wieviel fehlt noch daran, daß wir unser tägliches Brot haben!

Theresia im Karmel von Lisieux als Jeanne d'Arc verkleidet.

     Wieviel fehlt noch daran, daß wir unseren Schuldigern vergeben; und nicht in Versuchung fallen; und erlöst werden von dem Übel! Amen.
     O mein Gott, wenn man nur sähe, wie dein Reich seinen Anfang nimmt! Wenn man nur sähe, wie die Sonne deines Reiches aufgeht! Aber nichts, immer nur nichts! Deinen Sohn hast du uns gesandt, deinen Sohn, den du so liebst; dein Sohn ist gekommen, der so sehr gelitten hat, und er ist gestorben, und nichts, immer nur nichts! Wenn man nur sähe, wie der Tag deines Reichs anbricht! Und deine Heiligen hast du uns gesandt, du hast sie gerufen, einen jeden bei seinem Namen, deine Söhne, die heiligen Männer und deine Töchter, die heiligen Frauen, und deine Heiligen sind gekommen, und nichts, immer nur nichts! Jahre vergingen, so viele Jahre, daß ich die Zahl nicht weiß; es vergingen Jahrhunderte, vierzehn Jahrhunderte Christenheit, weh uns, seit der Geburt, und dem Tod, und der Verkündung. Und nichts, nichts, immer nur nichts! Und auf dem Antlitz der Erde herrscht nichts, nichts als nur die Verdammnis.
     Vierzehn Jahrhunderte (wenn sie auch christlich waren), vierzehn Jahrhunderte seit der Entsühnung unserer Seelen. Und nichts, immer nur nichts, das Reich der Erde ist nichts als das Reich der Verdammnis, das Königreich der Erde ist nichts als das Königreich der Verdammnis.
     Deinen Sohn hast du uns gesandt, und dazu die Heiligen. Und nichts rinnt über das Antlitz der Erde als ein Strom von Undank und von Verdammnis. Mein Gott, mein Gott, mein Gott, sollte dein Sohn denn vergebens gestorben sein? Er wäre gekommen, und das wäre umsonst? Alles ist schlimmer denn je. Wenn man doch nur sähe, wie die Sonne deiner Gerechtigkeit aufgeht. Aber es scheint fast, mein Gott, vergib mir, mein Gott, es scheint fast, daß dein Reich sich entfernt.
     Noch nie hat man so sehr deinen Namen geschmäht. Noch nie hat man so sehr deinen Willen mißachtet. Noch nie hat man dir so wenig gehorcht. Noch nie hat uns dein Brot so gefehlt. Und wenn es uns nur fehlte, mein Gott, wenn es uns nur fehlte! Und wenn nur das leibliche Brot uns fehlte, das Brot aus Mais, das Brot aus Roggen und Weizen; aber uns fehlt ein anderes Brot, das Brot, das unsere Seelen nährt; und uns verzehrt ein anderer Hunger; der einzige Hunger, der nicht zu stillende Leere im Magen läßt. Uns fehlt ein anderes Brot.
     Und statt des Reiches deiner Barmherzigkeit herrscht als einziges Reich auf dem Antlitz der Erde, deiner Erde, der von dir erschaffenen Erde, - statt des Reiches deiner Barmherzigkeit herrscht einzig das unvergängliche Königreich der Sünde. Und wenn wir doch bloß den Beginn deiner Heiligen sähen; wenn man nur sähe, wie das Reich deiner Heiligen anbricht!
     Doch was hat man getan, mein Gott, was hat man mit deinem Geschöpf getan? Noch nie hat man dich so gekränkt; und noch nie fanden so viele Kränkungen unverziehen ihr Ende. Noch nie hat der Christ so den Christen gekränkt, und noch niemals hat dich, mein Gott, noch niemals hat dich, mein Gott, der Mensch so gekränkt. Und noch nie fand so viele Kränkung unverziehen ihr Ende.
     Wird es denn heißen, du habest deinen Sohn vergebens gesandt, und dein Sohn habe vergebens gelitten, und er sei tot? Und es soll vergebens sein, daß er sich opfert, und daß wir ihn opfern, Tag für Tag? Wird es vergebens gewesen sein, daß ein Kreuz errichtet ward eines Tages, und daß auch wir es errichten, Tag für Tag? Was hat man denn mit dem christlichen Volke getan, mein Gott, mit deinem Volke? Und nicht nur bedrängen uns die Versuchungen; sie sind es, die triumphieren, sie sind es, die herrschen; und es ist die Herrschaft der Versuchung; und die Herrschaft der Königreiche auf Erden ist der Herrschaft der Versuchung verfallen; und die Bösen erliegen der Versuchung des Bösen, der Versuchung, Böses zu tun; den anderen Böses zu tun; und, vergib mir, mein Gott, dir Böses zu tun; aber die Guten, die Menschen, die gut waren, erliegen einer unendlich ärgeren Versuchung: der Versuchung zu glauben, du hättest sie verlassen.
     Im Namen des Vaters, und des Sohnes, und des Heiligen Geistes, mein Gott, erlöse uns von dem Übel, erlöse uns von dem Übel! Wenn es noch nicht genug der Heiligen gab, so schicke uns andere; schick' uns so viele, als nötig ist; schick' uns so viele, bis der Feind es müde wird! Wir werden ihnen folgen; alles werden wir tun, was du willst. Wir werden alles tun, was sie wollen. Wir werden alles tun, was sie uns sagen, in deinem Auftrag. Wir sind deine Gläubigen, schicke uns deine Heiligen; wir sind deine Schäflein, schicke uns deine Hirten; wir sind die Herde, schicke, die uns weiden! Wir sind gute Christen, du weißt, daß wir gute Christen sind. Wie kommt es denn nur, daß so viele Christen keine gute Christenheit geben? Irgend etwas stimmt da nicht. Wenn du sie uns nur sendetest, wenn du sie uns nur senden wolltest: eine deiner heiligen Jungfrauen! Es gibt doch noch welche. Es heißt, daß es sie gibt. Man hat sie gesehen. Man hat von ihnen gehört. Man kennt sie. Doch weiß man nicht, wie das zugeht. Es gibt heilige Jungfrauen, es gibt die Heiligkeit, und trotzdem stimmt etwas nicht. Irgend etwas stimmt nicht. Es gibt heilige Jungfrauen, es gibt die Heiligkeit, und noch nie hat das Königreich der Verdammnis so sehr geherrscht auf dem Antlitz der Erde.
     Vielleicht braucht es noch etwas Anderes, mein Gott, der du alles weißt! Du weißt, was uns fehlt. Wir brauchten vielleicht etwas Neues, was man noch niemals gesehen hat! Was man noch niemals gesehen getan hat! Doch wer wagte zu sagen, mein Gott, es könnte noch Neues geben nach vierzehn Jahrhunderten Christenheit, nach so vielen Heiligen, Männern und Frauen, nach all' deinen Märtyrern, nach der Passion und dem Tod deines Sohnes.
     (Sie setzt sich wieder und beginnt von neuem zu spinnen.)
     Kurzum, was uns fehlte, mein Gott: eine Heilige müßtest du senden...der es gelingt!

Charles Péguy, Das Mysterium der Erbarmung, München 1954, S. 9-15.