TITELTHEMA


„Ein Realismus, der alle
Irrtümer der Gnosis ausschließt"

von Guy Gaucher


Mit diesen Worten gedenkt der Weihbischof von Bayeux und Lisieux der Kleinen Theresia. Er erinnert daran, daß sie große Theologen wie die Kardinäle Journet und Congar und Philosophen wie Bergson und Mounier beeinflußt hat. Und daß sie sechs Mal an entscheidender Stelle im Katechismus der Katholischen Kirche zitiert wird.


     In dieser Feier zum hundertsten Jahrestag des Eingangs der heiligen Theresia vom Kinde Jesu und vom Heiligen Antlitz in den Himmel wurden wir Zeuge eines Ereignisses, dessen Tragweite wir bisher kaum abschätzen können: des zwölften Weltjugendtags in Paris.
     Sicherlich konnten viele von euch über Fernsehen an diesem Ereignis teilnehmen. Ihr habt gesehen, daß alles mit der heiligen Messe zu Ehren der heiligen Theresia von Lisieux begann, die Kardinal Jean-Marie Lustiger auf dem Marsfeld zelebrierte, und alles seinen Abschluß in Longchamp fand mit der Verkündigung der bevorstehenden Erhebung Theresias zur Kirchenlehrerin durch Papst Johannes Paul II. am 19. Oktober, dem Weltmissionssonntag, im Petersdom. Viele Journalisten haben festgestellt, daß der Applaus der Millionen von Jugendlichen bei dieser Verkündigung der längste der gesamten Feierlichkeiten war.

Das Marsfeld in Paris am 21. August 1997, dem Tag der Ankunft Johannes Pauls II.: „Die Lehre Theresias ist der leuchtende Ausdruck ihrer persönlichen Erfahrung der Gnade."

     Hundert Jahre nach der Agonie Theresias auf der Krankenstation eines kleinen unbekannten Karmels wird ihr von der Kirche der ehrenvolle Titel der Kirchenlehrerin zugesprochen, „als Antwort auf die vielen Bitten und nach aufmerksamem Studium", wie der Papst sagte.
     Was aber ist eine Kirchenlehrerin?
     Es gibt drei Bedingungen, um Kirchenlehrerin zu sein:
     1) Man muß eine kanonisierte Heilige sein. Schwester Theresia wurde am 17. Mai 1925 durch Papst Pius XI. heiliggesprochen.
     2) Man muß der Kirche durch die eigenen Schriften eine theologisch- spirituelle Lehre vermittelt haben, die der Weltkirche dient, die von „bedeutender Gelehrsamkeit" - und selbstverständlich rechtgläubig ist.
     Dies galt es unter Beweis zu stellen und den beratenden Theologen der Kongregation für die Selig- und Heiligsprechungsverfahren sowie der Glaubenskongregation und schließlich den Kardinälen dieser Kongregationen darzulegen.
     Zu diesem Zweck hatten zwölf Historiker, Theologen und gläubige Christen ein umfangreiches Dossier von 978 Seiten erstellt, die sogenannte ‚Positio'. Nach eingehenden Studien, die eine positive Bewertung fanden, gelangte die ‚Positio' auf den Schreibtisch von Papst Johannes Paul II.
     3) Er beschloß daraufhin, diese junge Karmelitin, die mit 24 Jahren verstarb, zur Kirchenlehrerin zu erheben, und erfüllte damit die dritte Bedingung.
     So ist Theresia nun die dritte Kirchenlehrerin gemeinsam mit der spanischen Heiligen Theresa von Avila und der Italienerin Katharina von Siena, die Papst Paul VI. 1970 zu Kirchenlehrerinnen erhoben hatte. Insgesamt gibt es damit nun 33 Kirchenlehrerer.
     In seiner sehr dichten Ansprache legte Johannes Paul II. in Paris die Gründe seiner Entscheidung folgendermaßen dar:
     „Die Lehre Theresias, eine wahre Wissenschaft der Liebe und leuchtender Ausdruck ihrer Erkenntnis des Geheimnisses Christi sowie ihrer persönlichen Erfahrung der Gnade, hilft dem Menschen von heute und auch jenem von morgen, sich der Gnadengaben Gottes bewußt zu werden und die Frohe Botschaft seiner grenzenlosen Liebe zu verkünden.
     Als Karmelitin und Glaubenszeugin, als Lehrmeisterin spiritueller Weisheiten für viele gottgeweihte Menschen und für Laien sowie als Patronin der Missionen, nimmt die heilige Theresia einen herausragenden Platz in der Kirche ein. Ihre vortreffliche Lehre verdiente es, als eine der fruchtbarsten anerkannt zu werden."
     Papst Pius XI. hatte bereits 1925 verkündet, daß die heilige Theresia von Lisieux „ein Wort Gottes für die Welt" sei.
     Es stimmt, daß diese junge Heilige seit hundert Jahren einen beachtenswerten Einfluß auf der ganzen Welt ausübt. Durch ihre geistlichen Schriften haben unzählige Menschen Jesus und das Evangelium wiederentdeckt. Durch ihren theologischen Einfluß hat sie die großen Theologen dieses Jahrhunderts geprägt wie Yves Congar, Hans Urs von Balthasar, Kardinäle wie Journet, Garrone, Daniélou, Pater Combes, Marie-Eugène vom Kinde Jesu und viele andere, ohne die Philosophen zu vergessen, wie Bergson, Mounier, Maritain, Daujat, Guitton, Schriftsteller wie Claudel, Bernanos, Mauriac, Julien Green, Daniel Rops, Marie-Noël, und vor allem Heilige und Selige wie Elisabeth von der Heiligsten Dreifaltigkeit, Pater Maximilian Kolbe, Pater Brottier, Edith Stein, usw.
     Es ist beeindruckend, daß Theresia keinen systematisch- theologischen Traktat verfaßt hat und der Heilige Geist ihre Schriften inspirierte, die sie aus Gehorsam verfaßte - handschriftliche Aufzeichnungen, Briefe, Gedichte, theatralische Werke -, und die mit einer völligen Transparenz die Wahrheit ihres Lebens widerspiegeln: „Sie hat nichts geschaffen als die Wahrheit." Und sie sprach mit ganz einfachen Worten, die allen verständlich sind und in mehr als sechzig Sprachen übersetzt wurden, von der Heiligen Dreifaltigkeit, dem Vater, Jesus Christus und dem Heiligen Geist: sie richtete alles auf das Wort Gottes, vor allem auf das Evangelium aus. Sie wurde sich bewußt, daß die Kirche vor allem eine Gemeinschaft der Liebe ist: „Im Herzen der Kirche, meiner Mutter, werde ich die Liebe sein."
     Theresia wußte mitzuteilen, daß die Verehrung Marias von Nazareth keine Nebensächlichkeit ist, - sie stellte sie vielmehr in das Zentrum des Geheimnisses Christi - und daß die Gemeinschaft mit den Heiligen Himmel und Erde verbindet. Sie hat auch die Nacht des Glaubens durchlebt, „am Tisch der Sünder sitzend", damit ihre Mitbrüder und Mitschwestern, die nur wenig oder überhaupt nicht gläubig waren, das Licht des Glaubens und der Hoffnung annehmen. Sie verzehrte sich in der Sorge um die Mission. Und man kann sagen, daß sie eine der Verkünderinnen der großen Grundideen des Zweiten Vatikanischen Konzils war. Im Katechismus der Katholischen Kirche wird sie sechs Mal an entscheidender Stelle zitiert.
     Es ist noch zu früh, um die spirituellen und theologischen Folgen der Erhebung dieses Mädchens zur Kirchenlehrerin zu ermessen. Man kann nur sagen, daß sie die bedeutende Stellung der Frau in der Kirche hervorgehoben hat. Über Jahrhunderte hinweg konnten heilige Frauen nicht Kirchenlehrerinnen werden, weil nur die Männer Zugang zum Wissen hatten. Auf diese Weise - so stellt Hans Urs von Balthasar bedauernd fest - konnte sich die Theologie nicht die Worte von Heiligen wie Hildegard von Bingen, Gertrud von Helfta, Julienne von Norwich, Angela von Foligno, Katharina von Genua, Katharina von Siena, Theresa von Avila, Theresia von Lisieux und vieler anderer zu eigen machen.
     Paul VI. vollzog im Jahre 1970 eine prophetische Tat, indem er zwei Frauen zu Kirchenlehrerinnen erhob, von denen eine, Katharina von Siena, eine Analphabetin war! Es handelte sich um eine beachtenswerte Revolution, aus der auch Theresia von Lisieux im Jahre 1997 ihren Nutzen zog (Pius XI. hatte die Erhebung zur Kirchenlehrerin 1932 noch zurückgewiesen): Die weibliche Theologie des Geheimnisses Gottes ergänzt die männliche Theologie durch besondere und unersetzbare Elemente.
     Nichts wurde in der Geschichte der Menschheit und der Kirche je vollbracht, ohne den gemeinsamen Beitrag von Mann und Frau.
     In der wunderbaren Entdeckung der Barmherzigkeit Gottes ist niemand weiter vorangeschritten als diese Frauen, die wir mit Maria auf dem Weg zum Kalvarienberg und zu Füßen des Kreuzes finden, mit einem Realismus der Menschwerdung, der alle Irrtümer der Gnosis ausschließt.
     Deshalb ist es eine große Freude für die Kirche und für die unzähligen Freunde der heiligen Theresia auf der ganzen Welt - insbesondere für die Jugendlichen, die davon auf dem Weltjugendtag erfuhren -, an der Schwelle zum dritten Jahrtausend und in Vorbereitung auf das Jubiläum des Jahres 2000, ein Mädchen als Kirchenlehrerin zu haben. Eine junge Heilige, die wie Federico Ozanam, der mit vierzig Jahren starb, die Früchte der radikalen Entscheidung für Christus aufzeigt.
     Das Evangelium weist uns den tiefen Sinn des „Geheimnisses Gottes auf, das den Kleinen und Unwissenden offenbart, den Klugen und Weisen dieser Welt aber verborgen bleibt." Mit überraschender Kühnheit wagte Theresia vom Kinde Jesu und vom heiligen Antlitz in Paraphrasierung des Matthäusevangeliums (Mt 11, 25) zu sagen: „Ah! Wenn die Weisen, die ihr ganzes Leben mit dem Studium verbracht haben, zu mir kämen, um mich zu befragen, dann würden sie sicherlich staunen, ein Kind von vierzehn Jahren zu sehen, das die Geheimnisse der Vollkommenheit versteht, die sie mit ihrer ganzen Wissenschaft niemals entdecken können, denn um sie zu besitzen, muß man arm im Geiste sein!" (ms. A. 49r).
     Die heilige Theresia, die schrieb: „Ah! Trotz meiner Geringfügigkeit möchte ich die Seelen erleuchten wie die Propheten, die Kirchenlehrer, ich habe die Berufung, Apostel zu sein..." (ms.B, 32), sie lehrt nun alle Völker, indem sie ihnen die Geheimnisse der barmherzigen Liebe aufzeigt. Hier schließt sich auch nahtlos der Text des Alten Testaments aus dem Buch Jesus Sirach an: „So strahle ich weiterhin Belehrung aus wie die Morgenröte, ich lasse sie leuchten bis in die Ferne. Weiterhin gieße ich Lehre aus wie Prophetenworte und hinterlasse sie den fernsten Generationen" (Sir 24, 30-31). Es handelt sich hier in keinem Falle um abstrakte oder intellektuelle Unterweisungen, sondern um leidenschaftliche Offenbarungen des Geheimnisses des Lebens, die unserer Existenz Sinn verleihen und uns den Weg zum Ewigen Leben öffnen. Man kann auch hoffen, daß jene, die Theresia nicht so gut kennen, und sie stets als die sanftmütige, unbedarfte ‚kleine Heilige der Rosen' ansehen, ihren oberflächlichen Eindruck überdenken und die ganze Tiefe ihrer Schriften und die Kraft ihres Lebenszeugnisses entdecken. Mit der Ankunft neuer Generationen stehen wir am Beginn eins neuen Abschnitts in der theresianischen Forschung.
     Die Einfachheit der ‚petite Thérèse', wird durch diesen außergewöhnlichen Titel nicht geschmälert. Sie wird - nach ihrem Wunsch - Kirchenlehrerin in aller Einfachheit sein, so wie sie in aller Einfachheit Patronin der Weltmissionen, Patronin der Mission in Frankreich, Patronin der Novizen, der Katholischen Aktion, die zweite Nationalheilige von Frankreich ist, usw.
     Theresia verfolgte in ihrem Leben kein anderes Ziel, als „die Dreifaltigkeit zu lieben, und sie lieben zu lassen". Ihr ganzes Leben war auf Christus bezogen, „ihrer einzigen Liebe", die sie in der Sanftmütigkeit und Kraft des Heiligen Geistes zum Vater brachte. Sie schrieb: „Ich verstehe und erfahre, daß ‚das Reich Gottes in uns ist'. Jesus braucht weder Bücher noch Lehrmeister, um die Seelen zu unterweisen. Er, der Lehrmeister aller Lehrmeister, unterrichtet ohne den Lärm der Worte... Ich habe ihn nie sprechen gehört, aber ich fühle, daß er in mir ist, in jedem Augenblick. Er leitet mich, und zeigt mir, was ich sagen und tun soll" (ms. A. 83v).