TITELTHEMA


Geschenkte Weisheit

von Giovanni Ricciardi


Wer sind die Kirchenlehrer, und wie viele gibt es? Theresia von Lisieux ist die dritte Frau, der dieser Titel verliehen wurde, und sie ist die jüngste Kirchenlehrerin in der Geschichte der Kirche überhaupt, weil sie im Alter von 24 Jahren starb und bereits hundert Jahre nach ihrem Tod mit diesem Titel ausgezeichnet wurde.


     Wir schreiben den 19. Oktober 1997. Die Kirche begeht den Weltmissionssonntag, und die heilige Theresia von Lisieux wird zur Kirchenlehrerin erhoben. Damit ist sie die dritte Frau, der diese Würde verliehen wurde. Gleichzeitig ist sie die ‚jüngste' Kirchenlehrerin der Kirchengeschichte, denn sie starb bereits im Alter von 24 Jahren und wurde schon hundert Jahre nach ihrem Tod mit diesem Titel ausgezeichnet.
     Mit ihr stieg die Zahl der Kirchenlehrer auf dreiunddreißig. Sieben stammen aus der Ostkirche und fünfundzwanzig gehören zur lateinischen Kirche. Hinter dieser Zahl verbergen sich Heilige aus allen Epochen der Kirchengeschichte. Wer aber wird zum Kirchenlehrer erhoben und nach welchen Kriterien wird eine solche Auszeichnung vorgenommen?
     Der Begriff ist apostolischen Ursprungs. Paulus zählt in seinem Brief an die Epheser verschiedene Charismen auf, die es in der Kirche gibt: „Und er [Jesus Christus] gab den einen das Apostelamt, andere setzte er als Propheten ein, andere als Evangelisten, andere als Hirten und Lehrer [...] für den Aufbau des Leibes Christi" (Eph 4,11). Die entscheidenden Merkmale des Kirchenlehrers sind Heiligkeit des Lebens, Rechtgläubigkeit der Lehre, der consensus Ecclesiae, und hervorragende wissenschaftliche Leistung.

Augustinus.

Die Väter und Lehrer
des Hochmittelalters
Nicht alle Kirchenväter sind auch gleichzeitig Kirchenlehrer. In der mittelalterlichen Christenheit war dieser Titel ganz streng jenen vorbehalten, die sich durch ihre Lehre und Wissenschaft besonders auszeichneten. Die erste Liste stammt aus dem 8. Jahrhundert von dem Mönch Beda Venerabilis. Auf ihr stehen Ambrosius, Augustinus, Hieronymus und Gregor der Große als Vertreter der lateinischen Kirche. Das mittelalterliche Mönchtum und die gesamte Christenheit stellte ihnen die vier großen Kirchenväter des Ostens zur Seite: Basilius, Gregor von Nazianz, Johannes Chrysostomus und Athanasius. Die Griechen haben letzteren, der in der lateinischen Kirche großes Ansehen genießt, weil er das Glaubensbekenntnis von Nizäa unermüdlich gegen Arius verteidigte, nicht auf eine Stufe mit den anderen drei großen Kirchenvätern gestellt. Das Mittelalter, insbesondere die monastische Tradition, die eng mit der Lehre der Kirchenväter der ersten Jahrhunderte verbunden ist, hätte es nie gewagt, diese Liste zu erweitern. Daher blieb sie bis in die Neuzeit praktisch unverändert.
     Im 16. Jahrhundert begann die Kirche jedoch, neue Kirchenlehrer zu verkünden, und wählte nun auch heilige Theologen des Mittelalters aus. Ihre Erhebung wurde nunmehr zu einem formalen Akt und war nicht länger einfach nur durch den consensus Ecclesiae gegeben, sondern es bedurfte eines offiziellen Dekrets des Papstes oder eines Konzils. Nach dem Konzil von Trient, bei dem die Lehre und Autorität des heiligen Thomas von Aquin ebenso entscheidend waren wie die der Kirchenväter, nahm Pius V. den Aquinaten in die Schar der Kirchenlehrer auf. Mit der Bulle Mirabilis Deus vom 1. April 1567 verlieh der Papst ihm die gleichen liturgischen Ehren wie den vier großen lateinischen Kirchenvätern des Altertums. Pius V. übernahm damit eigentlich nur eine Tradition, die im Dominikanerorden bereits seit dem Jahr 1368 bestand, und dehnte sie auf die Universalkirche aus. Sixtus V. wollte Thomas von Aquin, der bereits seit einiger Zeit doctor angelicus genannt wurde, wenige Jahre später den doctor seraficus zur Seite stellen, nämlich den heiligen Bonaventura aus Bagnoregio vom Franziskanerorden. Mit der Verleihung des Titels an zwei große mittelalterliche Theologen wurde der theologische Beitrag der Scholastik offiziell anerkannt.
      Seit dem 18. Jahrhundert kam die Verleihung des Titels immer häufiger vor. Sie war aber letztlich nur eine Ausweitung eines lokalen Kultes wie zum Beispiel bei Isidor von Sevilla in Spanien oder in einem Orden wie zum Beispiel bei Bernhard von Clairvaux. Alle diese Heiligen gehörten jedenfalls auch weiterhin in die Zeit des lateinischen Altertums (Hilarius von Poitiers, Petrus Chrysologus, Leo der Große und Isidor von Sevilla) oder des Mittelalters (Anselm von Canterbury, doctor marianus, Bernhard von Clairvaux, doctor mellifluus und Petrus Damiani).

Ambrosius.

Die Lehrer der Neuzeit
Pius IX. war der erste Papst, der diesen Titel zwei Heiligen der Neuzeit verlieh: 1871 dem Moraltheologen Alfons Maria von Liguori, doctor zelantissimus, und 1877 Franz von Sales. Leo XIII., der Nachfolger von Pius IX., nahm zum Beweis seiner besonderen Achtung vor den getrennten Ostkirchen drei ihrer Heiligen aus dem ersten Jahrtausend in die Schar der Kirchenlehrer auf und erweiterte damit die Liste um Cyrill von Jerusalem, Cyrill von Alexandrien und Johannes von Damaskus. Aufgrund des überwiegend liturgischen Charakters dieses Aktes übertrug Benedikt XV. der Ritenkongregation die Vorbereitung und erhob 1920 den Diakon Ephräm den Syrer zum Kirchenlehrer. Er hatte im vierten Jahrhundert zahlreiche Bibelkommentare und vor allem Hymnen in seiner syrischen Muttersprache verfaßt, damit das Volk mitsingen und so den katholischen Glauben unbeschadet durch den Arianismus bewahren konnte.
     Der folgende Papst, Pius XI., verkündete insgesamt vier Kirchenlehrer: einen mittelalterlichen Heiligen, den als doctor universalis bekannten Albertus Magnus, und drei Heilige der Neuzeit: Johannes vom Kreuz, Petrus Canisius und Robert Bellarmin. In die Reihen der ‚modernen' Kirchenlehrer schlich sich damit eine völlige ‚Neuheit' ein, denn Johannes vom Kreuz war eigentlich kein Theologe, sondern ein Mystiker. Mit den anderen beiden, Verteidiger des rechten Glaubens in der Zeit der Reformation, kamen zum ersten Mal zwei maßgebliche Vertreter der Gesellschaft Jesu auf die Liste.
     Pius XII. erhob am 16. Januar 1946 den heiligen Antonius von Padua zum Kirchenlehrer, der schon lange zuvor als solcher verehrt worden war. Aus sicherer Quelle wissen wir, daß Gregor IX. nach der Heiligsprechung zu Ehren des Franziskaners die Antiphon O doctor optime anstimmte, die eigentlich den Kirchenlehrern vorbehalten war. Antonius war einer der ersten Theologieprofessoren des Franziskanerordens und genoß beim Papst wegen seiner Predigten hohes Ansehen. Der letzte männliche Kirchenlehrer war der Kapuziner Laurentius von Brindisi. Er lebte in der Zeit der Gegenreformation und war ein unermüdlicher Prediger und Verbreiter seines Ordens in Deutschland. Johannes XXIII. erhob ihn 1959 zum Kirchenlehrer.

Johannes Chrysostomus.

1970: die ersten ‚Kirchenlehrerinnen'
Am 27. September 1970 verlieh Paul VI. diesen Ehrentitel zum ersten Mal einer Frau, nämlich Theresa von Avila. Um diesen Akt zu rechtfertigen, der als Bruch mit der Tradition erscheinen konnte, betonte der Papst eigens, daß seine Wahl aus dem einstimmigen consensus Ecclesiae über die Reformerin des Karmelitenordens entsprang: „Wir haben der heiligen Theresa von Jesus den Titel Kirchenlehrerin verliehen oder besser noch zuerkannt", erklärte der Papst in seiner Predigt während der heiligen Messe anläßlich der Erhebung „der großen Karmelitin" zur ‚Kirchenlehrerin'. Und der Papst führte weiter aus: „Das Licht des Titels erhellt in ihr, der heiligen Theresa, unbestreitbare Werte, die ihr bereits vorher in vollem Umfang zuerkannt worden sind: Heiligkeit des Lebens, ein Wert, den Unser ehrwürdiger Vorgänger Gregor XV. durch die Heiligsprechung bereits im Jahr 1622 offiziell verkündet [die heilige Theresa war vierzig Jahre zuvor gestorben] und Unsere Karmelitin so zusammen mit Ignatius von Loyola, Franz Xaver [...] und Philipp Neri [...] ins Buch der Heiligen eingeschrieben hatte. Wenn auch erst in zweiter Linie, aber dennoch ebenso und besonders deutlich zeigt es ‚die Vortrefflichkeit der Lehre'. [...] Die Fürsprache der Tradition der Heiligen, der Theologen, der Gläubigen, der Gelehrten war ihr bereits gewiß: Wir haben sie nunmehr bestätigt."
     Paul VI. war sich der völligen Neuheit, die die Verkündigung einer Frau darstellte, jedenfalls sehr wohl bewußt. Daher erklärte er: „Die heilige Theresia ist die erste Frau, der die Kirche diesen Titel ‚Lehrerin' verleiht. Bei diesem Ereignis erinnern wir uns sehr wohl an die strengen Worte des heiligen Paulus: Mulieres in Ecclesiis taceant: das heißt soviel wie: die Frau ist nicht zu hierarchischen Ämtern wie Lehramt und Weiheamt zugelassen. Ist damit also das Gebot des Apostels übertreten worden? Wir können darauf ganz klar mit nein antworten. In Wirklichkeit handelt es sich dabei nicht um einen Titel, der mit den hierarchischen Funktionen des Lehramts verbunden ist."

Athanasius.

     Sieben Tage später, am 4. Oktober 1970, erhob Paul VI. auch Katharina von Siena zur Kirchenlehrerin, die in ihrem ganzen Leben nie Theologie studiert hatte und zudem sogar noch Analphabetin gewesen war. In seiner Ansprache bei diesem Anlaß stellte der Papst fest: „Was können wir über die Vortrefflichkeit der Lehre der heiligen Katharina sagen? Wir werden in den Schriften der Heiligen gewiß nicht den apologetischen Wert und die theologische Kühnheit finden, welche die Werke der Leuchten der alten Kirche sowohl des Ostens als auch des Westens kennzeichneten. Noch dürfen wir von der ungebildeten Jungfrau von Fontebranda hohe Spekulationen erwarten, wie sie der systematischen Theologie eigen sind, und die den scholastischen Theologen des Mittelalters Unsterblichkeit verliehen haben. Was bei der Heiligen vielmehr beeindruckt, ist die eingegossene Weisheit, das heißt ihre klare, tiefe und berauschende Aufnahme der göttlichen Wahrheiten und der Geheimnisse des Glaubens [...]: eine offensichtlich wundersame Aufnahme, die von einem Charisma der Weisheit des Heiligen Geistes herrührt."
     Auch die kleine Theresia vom Kinde Jesu studierte zwar nicht gerade Theologie, sie gab aber trotzdem seit hundert Jahren sehr vielen Christen durch ihre Schriften Führung. Davon zeugt in unserem Jahrhundert die enorme Verbreitung der Geschichte einer Seele. Daher gelten auch für sie die Worte Pius' II. aus der Bulle zur Heiligsprechung der Jungfrau aus Siena: „Doctrina eius non acquisita fuit; prius magistra visa est quam discipula" (Ihre Lehre war nicht erworben; und sie schien schon Meisterin zu sein, noch bevor sie überhaupt Schülerin war).