Kirche |
Der Ökumenismus
dessen, dem der Glaube am Herzen liegt.
Wem die Einheit der Christen etwas bedeutet, der strebt
sie nur dann mit Leidenschaft an, wenn ihm der lebendige
Glaube in der Welt am Herzen liegt.
Ein Interview mit Kardinal Johannes Willebrands.
von Gianni Valente
Jesus Christus auf dem Thron und zu seinen Füßen Papst Honorius III., der ihm die Proskynese erweist, Apsismosaik der Basilika Sankt Paul vor den Mauern in Rom. |
Betrachtet
man die symptomatischen Erscheinungen der letzten Monate, so kommt man zu dem Schluß,
daß die Ökumenische Bewegung die Eiszeit noch immer nicht überwunden hat. Dieser
Umstand erschüttert umso mehr, wenn man bedenkt, daß die Ökumene Johannes Paul II. in
den letzten Jahren seines Pontifikats ein besonderes Anliegen war. In seiner Enzyklika Ut
unum sint erklärte er sich sogar bereit, die verschiedenen Weisen der bisherigen
Ausübung des Primates des Bischofs von Rom zu prüfen, um die Hindernisse auf dem Weg zur
Einheit zu überwinden.
Zwar
wurde die Ökumenische Bewegung bereits seit dem Jahr 1989 untergraben, doch die
Rückschläge der letzten Zeit, die den noch verbliebenen ökumenischen Geist auf den
Boden der Tatsachen zurückgeholt haben, sind besorgniserregend. Vor der europäischen
ökumenischen Versammlung im Juni in Graz zog sich dann die orthodoxe Kirche von Georgien
aus zwei der wichtigsten ökumenischen Einrichtungen zurück: aus dem Ökumenischen Rat
der Kirchen, zu dem weltweit 332 orthodoxe und protestantische Kirchen gehören, und aus
der Konferenz der europäischen Kirchen, die 115 protestantische und orthodoxe Kirchen
Europas versammelt. Darüber hinaus scheiterte das Treffen zwischen Papst Johannes Paul
II. und dem Patriarchen von Moskau und aller russisch-orthodoxen Kirchen, Alexius II., in
letzter Sekunde. In der Grazer Woche wurde aber deutlich, daß die orthodoxe Seite die
liberale Einstellung der ökumenischen Einrichtungen nicht dulden werde und erhob erneut
den Vorwurf, die anderen christlichen Bekenntnisse betrieben auf ihrem Territorium
aggressive Proselytenmacherei. Außerdem verzichtete das Ökumenische Patriarchat von
Konstantinopel darauf, wie üblich eine Delegation zum Hochfest der Heiligen Petrus und
Paulus nach Rom zu entsenden. Seit Paul VI. und Athenagoras die gegenseitige Kommunikation
aufgehoben haben, die einst zum Schisma zwischen Rom und Konstantinopel geführt hatte,
also seit einundzwanzig Jahren, ist es fester Brauch, daß Vertreter aus Konstantinopel an
den Feierlichkeiten am 29. Juni teilnehmen. Noch vor zwei Jahren hatte Patriarch
Bartholomäus I. diese Delegation sogar selbst angeführt. Schließlich hat die neue
russische Gesetzgebung in religiösen Angelegenheiten, hinter der national-religiöser
Protektionismus steht, in katholischen Kreisen ein verspätetes Heimweh nach der Ära
Gorbatschow und seiner liberalen religiösen Ordnung aufkommen lassen.
Wie das
folgende Interview zeigt, ist Kardinal Johannes Willebrands kein leidenschaftlicher
Verfechter der Ökumene um jeden Preis. Den betagten Würdenträger, der lange Zeit den
Frühling der Ökumenischen Bewegung geprägt hat und über zwanzig Jahre Präsident des
Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen war, schmerzen heute nicht in
erster Linie die erwähnten Schwierigkeiten, sondern die fortdauernde Trennung im Glauben,
die heute genauso wie früher das eigentliche Problem ist. Nur wer den Glauben in seinem
eigenen Leben als Geschenk erfahren hat und ihn für das wertvollste Gut erachtet, nimmt
diese Trennung überhaupt wahr. Er weiß aber auch, daß das Wunder der Einheit unter den
Christen Werk eines Anderen ist und nicht durch Verhandlungen zwischen religiösen
Führern und Bürokraten herbeigeführt werden kann.
Kardinal Johannes Willebrands. |
Johannes Willebrands, Jahrgang 1909, studierte Philosophie am Angelicum, der Päpstlichen Universität der Dominikaner in Rom. Auf Aufforderung seines Bischofs begann er, sich mit der Frage der Ökumene zu beschäftigen, und beteiligte sich an der Bewegung, die damals in Holland - auch seit der Begegnung zwischen Katholiken und Protestanten in den Konzentrationslagern der Nazis - am Entstehen war. Von Johannes XXIII. zum Sekretär des gerade errichteten Sekretariats für die Einheit der Christen (1960) ernannt, war er an der Erstellung einiger der am meisten diskutierten Texte des letzten Konzils über den Ökumenismus beteiligt. 1968 folgte er Kardinal Agostino Bea in der Leitung des vatikanischen Dikasteriums für die Einheit der Christen nach. Paul VI. kreierte ihn daraufhin 1969 zum Kardinal. Nach seiner Emeritierung im Jahr 1989 kehrte er nach Holland zurück. Am 4. November, dem Gedenktag des heiligen Karl Borromäus und Namenstag von Johannes Paul II., war er jedoch beim traditionellen Empfang der älteren Würdenträger in Rom. 30Tage hat diesen kurzen Romaufenthalt Anfang November genutzt, um den holländischen Kardinal um ein Gespräch zu bitten.
Sie sind einer der Pioniere der katholischen Ökumene gewesen. Was hat Sie dazu bewegt,
sich die Einheit der Christen in einer Zeit zu Herzen nehmen, da fast niemand daran
dachte?
JOHANNES WILLEBRANDS: Mein Engagement in der Ökumene nahm in den Niederlanden seinen
Anfang, wo die evangelischen Christen die zweitgrößte christliche Gemeinschaft bilden
und die verschiedenen Gemeinschaften völlig getrennt, ja sich sogar feindselig gesinnt
waren. Es gab damals einen katholischen Verein, der nach einem Heiligen und Kirchenlehrer
aus der Zeit der Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten benannt war,
nämlich nach dem heiligen Petrus Canisius. Zu meiner Zeit haben wir dem Verein einen
neuen Namen gegeben und ihn nach dem heiligen Willibrord, dem Apostel der Niederlanden und
dem Patron aller Christen, benannt: Er war eine Gestalt, die vereinte. In dieser Zeit war
das Verhältnis der verschiedenen christlichen Konfessionen gespannt. Dies ist heute
anders. Ich kann nicht verstehen, wie man sich nach diesem ständigen Gegensatz
zurücksehnen kann.
Betrachtet man die jüngsten Ereignisse, so könnte man jedoch meinen, der ökumenische
Dialog habe jetzt einen Tiefstand erreicht. Wie beurteilten Sie den derzeitigen Stand der
Ökumene?
WILLEBRANDS: Die Spaltung ist noch nicht überwunden, sondern besteht zum Schmerz der
Gläubigen fort. Es gibt daher zwar Augenblicke der Freude, der Dankbarkeit, aber die
Tatsache der Spaltung ist auch weiterhin gegeben. In bestimmten Augenblicken, in denen die
Trennung besonders deutlich hervortritt und spürbar ist, empfindet man diesen Schmerz
umso stärker. Mehr als die einzelnen Auseinandersetzungen oder feindseligen Episoden,
mehr als die augenblicklichen Konflikte schmerzt die Trennung im eigentlichen, im Glauben
als solchem.
Einige Episoden und Zwischenfälle in der Geschichte der Ökumene erinnern sehr an das,
was heute geschieht. Auch die Einladung der Orthodoxen zum Konzil schuf unter ihnen aus
Prestiggründen Spannungen.
WILLEBRANDS: In diesen Episoden ging es um menschliche Meinungsverschiedenheiten, die
aber nicht den eigentlichen Grund der Trennung als solche erreichen. Die Trennung im
Glauben ist der eigentliche Konflikt, der eigentliche Schmerz. Die anderen
Auseinandersetzungen entstehen entweder aus psychologischen Umständen oder aus der
Versuchung, den anderen zu beherrschen, das heißt, sie spielen sich alle auf menschlicher
Ebene ab. Die eigentliche Trennung besteht hingegen im Glauben an sich, im wertvollsten
Gut eines jeden Christen, und dies ist sehr viel schlimmer als einzelne
Mißverständnisse.
Wir erkennen Uns im demütigen Anbeter, Unserem Vorgänger Honorius III. wieder, der in dem herrlichen Apsismosaik der Basilika Sankt Paul vor den Mauern ganz klein, ja fast im Boden versunken dargestellt ist, wie er den Fuß Jesu küßt, der in gigantischen Ausmaßen dargestellt als königlicher Lehrer die Versammlung in der Basilika, das heißt die Kirche überragt und segnet." Paul VI. vor den Konzilsvätern des II. Vatikanischen Konzils, Petersdom, den 29. September 1963 |
Wie es scheint, haben die Schwierigkeiten im Osten seit 1989 eher zugenommen.
WILLEBRANDS: Die Berliner Mauer ist gefallen, aber welche Mauer hat sich zwischen den
Christen erhoben? Wir wollen die Einheit machen, aber die Spaltung zwischen den Christen
bleibt und trifft das Tiefste, was der Christ besitzt: seinen Glauben. Nicht seinen
Glauben an andere Menschen, sondern seinen Glauben an den Schöpfer und Erlöser. Und
diese Spaltung und Trennung bricht manchmal in offene Feindseligkeit aus. Wir müssen auch
weiterhin gemeinsam die Einheit anstreben und die Spaltung im Innersten unseres Lebens, im
Glauben überwinden.
In der Zeit des Kalten Krieges warf man den Ostkirchen vor, Werkzeug der Propaganda der
kommunistischen Regime jener Länder zu sein. Wurde nicht auch die katholische Kirche als
verlängerter Arm des Westens bezeichnet?
WILLEBRANDS: Die Identifizierung mit den zwei Blöcken geschah auf beiden Seiten. Dies
ist bedauerlich und hat nichts mit dem Glauben zu tun, sondern bleibt an seiner
Oberfläche haften.
Kardinal Hamer sagte uns einmal: Ich bin Kardinal Willebrands begegnet, und er
sagte mir: Wir haben uns das ganze Leben für die Einheit der Christen abgemüht, aber
manchmal scheint es, daß der Glaube selbst abgenommen hat." Kann, wer der die
Einheit des Glaubens sucht, etwa verkennen, daß gerade der Glaube als reale Erfahrung des
christlichen Volkes heute nachgelassen hat?
WILLEBRANDS: Ich lernte Pater Hamer kennen schon lange, bevor er zum Kardinal ernannt
wurde. Es entstand eine geistliche Freundschaft. Obwohl wir ganz unterschiedliche Menschen
mit einer unterschiedlichen Ausbildung waren, lernten wir, uns als Freunde auf der Suche
nach der Einheit der Christen im Glauben zu schätzen. Unsere Freundschaft überwand auch
Meinungsverschiedenheiten oder Verschiedenheiten in der Methode, die die Einheit von zwei
katholischen Priestern, die sich mit aufrichtiger Leidenschaft um die Wiederherstellung
der Einheit zwischen den verlorenen christlichen Brüdern und Schwestern bemühten, nicht
antasteten, sondern korrigierten und vereinfachten.
Wem die
Einheit der Christen etwas bedeutet, der strebt sie nur dann mit Leidenschaft an, wenn ihm
der lebendige Glaube in der Welt am Herzen liegt. Das Verlangen nach der Einheit unter den
Christen ist kein frommer Wunsch, sondern ein Wesensmerkmal der Sendung der Kirche. Jesus
selbst will diese Einheit, weil die Einheit der Christen, die mit menschlichen Kräften
unmöglich zu erreichen ist, das Wunder ist, das in der Geschichte seine Herrlichkeit
offenbart. Die Ökumene ist keine Anstrengung, um die getrennten Christen um jeden Preis
zur Einheit zu führen. Ihr Ziel ist nicht die Wiedervereinigung' durch menschliche,
politische oder sentimentale Mittel.
Verliert man aufgrund der Schwäche, des Wirklichkeitsschwund in der Glaubenserfahrung,
manchmal nicht auch die eigentliche Quelle jeder Ökumene aus den Augen? Bei vielen
ökumenischen Versammlungen scheint die Grundlage für die Einheit die Vereinigung in
einem vagen, verbreiteten religiösen Idealismus zu sein.
WILLEBRANDS: Nein, nein. Bei ernsthaften Versammlungen sind die Diskussionspunkte
sorgfältig vorbereitet. Viele dieser Treffen beginnen und enden mit einem Gebet zum
Herrn, mit einer Bitte um seinen Beistand, denn nur er kann die Herzen erleuchten und die
Trennung heilen. Alle menschlichen Mittel, das Geschichtswissen usw. sind zwar hilfreich,
aber nur wenn der Heilige Geist uns erleuchtet, erkennen wir einerseits, was eitel und
grundlos ist, und andererseits, was wirklich vereint. Wenn die Gnade des Herrn uns
erleuchtet, so läßt sie uns erkennen, was die Einheit erfordert und was der Einheit
genügt, nämlich die Übereinstimmung im Glauben der Apostel, sowie was den verschiedenen
liturgischen, theologischen und kulturellen Traditionen eigen ist. Andernfalls liefen wir
Gefahr, den anderen im Namen des Glaubens das aufzuerlegen, was der Glaube gar nicht
verlangt. Der Dialog würde dann in einen Kampf zur Durchsetzung der eigenen Meinung
ausarten. Was der Herr allein geben kann, gibt er nicht durch menschliche Diskussionen.
Seit der Enzyklika Ut unum sint diskutiert man über neue Formen der Ausübung des
petrinischen Primates. Was schlagen Sie in dieser Hinsicht vor?
WILLEBRANDS: Der petrinische Primat darf nicht Hindernis, sondern soll Fundament der
Einheit sein. Denn er ist weder politischer Primat noch ein Primat menschlicher Macht,
sondern ein göttliches Geschenk, sozusagen eine Schöpfung des Heiligen Geistes, der ihn
zur Festigung der Einheit aller Christgläubigen gewollt hat. Der größte Schmerz ist
für den Gläubigen die Zwietracht vor allem um jene Gaben, die zur Vermehrung und
Stärkung der Einheit geschenkt wurden, wie zum Beispiel die Eucharistie und das
Petrusamt.
Jesus selbst will diese Einheit, weil er durch das Wunder der Einheit der Christen, die mit menschlichen Kräften unmöglich zu erreichen ist, in der Geschichte seine Herrlichkeit offenbart. |
Kardinal König sagte in einem Interview gegenüber 30Tage: Bei allem Respekt vor
der Person des jetzigen Papstes, ich bin darüber bestürzt, daß man heute allgemein der
Meinung ist, der Papst mache die Kirche, denn es geht um das Amt des Papstes und nicht um
die Person. Das Bild, das die Welt vom Papst hat, ist das Bild eines großen, religiösen
Strategen, der mit den Mitarbeitern der Kurie eine Strategie ausarbeitet und verfolgt. In
der Kirche sieht man daher lediglich ein Produkt dieser Strategie, dieses Plans. Aber die
Überlieferung hat uns so etwas über Petrus und seine Nachfolger nie gelehrt. Sie
machen' nicht die Kirche." Teilen Sie diese Beschreibung der heutigen Lage?
WILLEBRANDS: Der Nachfolger Petri hat nicht die Aufgabe, ein großes
philosophisch-theologisches System zu schaffen. Der Papst darf nicht gleichsam ein
Descartes sein. Von ihm wird auch nicht verlangt, daß er ein großer Theologe ist, wie es
sie unter den Heiligen und Professoren gibt. Der einzige Baumeister der Einheit ist
Christus, der Herr. Er allein ist der Mittelpunkt, das Fundament, das Wesentliche der
Kirche. Verkürzt man den Papst auf einen religionspolitischen Strategen, so hat man das
Wesentliche des Papsttums nicht erkannt: daß es kein System ist, sondern eine Einrichtung
Jesu. Das Papsttum ist eine Wirklichkeit, von der Jesus selbst Gebrauch macht. Gott
offenbart sich den Menschen in dieser Form, die zur Kirche als Leib Christi gehört. Die
Kirche ist keine gesellschaftliche Körperschaft, die durch das Denken eines Philosophen
oder Theologen zusammengehalten wird, sondern sie ist der Leib Christi.
Welches sind Ihrer Ansicht nach die Wesensmerkmale des Amtes der ersten Nachfolger
Petri und in welcher Hinsicht könnten sie Anhaltspunkt für eine mögliche
Vereinfachung' sein?
WILLEBRANDS: Zuallererst gilt es zu erkennen, daß der Primat ein Geschenk Gottes, ein
Geschenk Christi ist und nicht das Ergebnis einer Entwicklung oder eine Auseinandersetzung
zwischen Aposteln und Kirchenlehrern. Auch Jesus ermahnte die Apostel, als sie darüber
stritten, wer unter ihnen der Größte sei, wer den Platz zu seiner Linken und Rechten
einnehmen dürfe.
Die Krönung der Gottesmutter, Apsismosaik der Basilika Santa Maria Maggiore in Rom. |
In der heutigen Zeit bitten zahlreiche katholische Kirchenführer um Vergebung für die
Sünden und Irrtümer der Vergangenheit. Auch Kardinal Ratzinger erwähnte die Hinrichtung
der Irrlehrer auf dem Scheiterhaufen und sagte, die Kirche sei eine Kirche der Märtyrer
und dürfe nicht eine Kirche sein, die andere zu Märtyrern macht.
WILLEBRANDS: Vor allen anderen muß man den Herrn um Vergebung bitten, denn die Sünde
ist immer eine Beleidigung des Herrn. Vor diesem Hintergrund soll man aber auch die
Menschen um Vergebung für die Sünden der Ungerechtigkeit, Feindschaft und des fehlenden
Verständnisses für sie bitten. Beides gehört zusammen. Die Katholiken haben in vielen
Augenblicken der Geschichte gegen Christen anderer Konfessionen gesündigt, indem sie sie
zu vernichten suchten.
Sie spielten im Dialog mit dem Judentum eine wichtige Rolle. Wie beurteilen sie die
derzeitigen Schuldbekenntnisse der Kirche gegenüber dem jüdischen Volk?
WILLEBRANDS: Wenn wir das jüdische Volk verurteilten, so nur deshalb, weil es nicht
wie die Christen die Person Jesu Christi anerkannt hat. Wir haben die Juden verfolgt, weil
sie nicht angenommen haben, was Christus und die Apostel ihnen verkündet und geschenkt
haben. Dies sind Urteile und Schlußfolgerungen, die zuallererst Gott zustehen, und ihm
bleiben sie anheimgestellt. Der Glaube darf niemandem aufgezwungen werden, erst recht
nicht durch Zwangsmaßnahmen. Juden und Katholiken haben dies jedoch mehrmals getan, und
dieser Irrtum ist beiden gemein. Die Ansprache des Papstes beim jüngsten Symposium über
Judenfeindlichkeit in einer christlichen Umwelt schien mir sehr tiefgehend und aufrichtig.
Der Papst erklärte, wer Jesu Zugehörigkeit zum jüdischen Volk auf ein kulturelles
kontingentes Faktum beschränke, lehne letztlich die Menschwerdung bzw. die Tatsache ab,
daß Gott in diesem konkreten Umfeld, in einer ganz bestimmten Stunde der Geschichte
Mensch geworden ist.
Vor kurzem haben wir den hundertsten Jahrestag der Geburt Pauls VI. gefeiert. Wie haben
Sie die große ökumenische Leidenschaft dieses Papstes in Erinnerung, die ihm sehr viel
Leiden und auch Kritik innerhalb der Kirche einbrachte?
WILLEBRANDS: Paul VI. hat uns sehr geholfen. Ich erinnere mich an eine ökumenische
Versammlung in der Nähe von Mailand. Der damalige Erzbischof Montini ermahnte uns, daß
vor allem wir Katholiken eins sein sollten. Diese Einheit sei ein anfängliches Zeichen,
um auch die anderen Christen zur Einheit zu rufen. Er teilte seinen tiefen christlichen
Glauben durch große Demut und durch aufsehenerregende Gesten mit, wie zum Beispiel, als
er die Füße des orthodoxen Metropoliten Melitos küßte. Die Lage ist heute anders.
Vielleicht ist es heute schwieriger, solche Gesten zu vollziehen. Die Dringlichkeit, den
Herrn um das Geschenk der Einheit zu bitten, ist aber immer noch dieselbe geblieben.