Die gemeinsame christologische Erklärung der katholischen Kirche
und der ostsyrischen Kirche Nach der Verurteilung durch das
Konzil von Ephesus wurden die Anhänger des Nestorius aus dem Reich verbannt. Sie
siedelten sich jenseits der östlichen Grenzen in persisch kontrolliertem Gebiet an. Die
Ursprünge der assyrischen Kirche des Orients, die heute etwa eine halbe Million Gläubige
zählt, gehen bis auf jene antike nestorianische Diaspora zurück.Im November 1994
unterzeichneten der Bischof von Rom, Papst Johannes Paul II., und der Patriarch der
ostsyrischen Kirche, Mar Dinkha IV., eine gemeinsame christologische Erklärung. Damit
haben sie bestätigt, daß es in der Lehre über Jesus Christus zwischen der katholischen
Kirche und der kleinen, aber sehr alten Kirche des Orients keine Unterschiede gibt. Die
Erklärung überwindet alle Mißverständnisse und hat als Grundlage für das Einvernehmen
die vom Konzil von Chalkedon verkündeten Definitionen, wie sie in dem berühmten Brief
von Papst Leo I. an Bischof Flavianus von Konstantinopel enthalten sind.
"Seine
Heiligkeit Johannes Paul II., Bischof von Rom und Oberhaupt der katholischen Kirche, und
Seine Heiligkeit Mar Dinkha IV., Katholikos und Patriarch der Assyrischen Kirche des
Ostens, danken Gott, der sie zu dieser neuen brüderlichen Begegnung inspiriert hat.
Beide
betrachten diese Begegnung als grundlegenden Schritt auf dem Weg zur Wiederherstellung der
vollen Gemeinschaft zwischen ihren Kirchen. Denn sie können von nun an tatsächlich
zusammen vor der Welt ihren gemeinsamen Glauben an das Geheimnis der Menschwerdung
bekennen.
Als
Erben und Wächter des von den Aposteln empfangenen Glaubens, wie er von unseren
gemeinsamen Vätern im Nizänischen Glaubensbekenntnis formuliert wurde, bekennen wir
unseren Glauben an den einen Herrn, Jesus Christus, Gottes eingeborenen Sohn, vom Vater
gezeugt vor aller Zeit, der in der Fülle der Zeit für uns Menschen und zu unserem Heil
vom Himmel herabgestiegen und Mensch geworden ist. Das Wort Gottes, die zweite Person der
Heiligsten Dreifaltigkeit, hat durch die Kraft des Heiligen Geistes aus der allerseligsten
Jungfrau Maria einen Leib angenommen und ist Mensch geworden. Dieser Leib war von einer
vernunftbegabten Seele beseelt, mit der er vom Augenblick der Empfängnis an untrennbar
vereinigt war.
Deshalb
ist unser Herr Jesus Christus wahrer Gott und wahrer Mensch, vollkommen in seiner Gottheit
und vollkommen in seiner Menschheit, eines Wesens mit dem Vater und in allem uns gleich,
außer der Sünde. Seine Gottheit und seine Menschheit sind in einer Person geeint,
unvermischt und unverändert, ungetrennt und ungeteilt. In ihm bleibt der Unterschied der
göttlichen Natur und der menschlichen Natur mit all ihren Eigenschaften, Fähigkeiten und
Handlungen gewahrt. Doch weit davon entfernt, einer und zugleich ein anderer' zu
sein, sind Gottheit und Menschheit in der Person des einzigen Sohnes Gottes und Herrn
Jesus Christus geeint, der Gegenstand einer einzigen Anbetung ist.
Deshalb
ist Christus kein gewöhnlicher Mensch', den Gott adoptiert hat, um in ihm zu wohnen
und ihn zu inspirieren, wie er es bei den Propheten und Gerechten getan hat. Doch das
gleiche göttliche Wort, von seinem Vater gezeugt vor aller Zeit, ohne Anfang in seiner
Gottheit, wurde in seiner Menschheit in der Fülle der Zeit aus einer Mutter und ohne
Vater geboren. Die menschliche Natur, die die allerseligste Jungfrau Maria geboren hat,
war immer die Menschheit des Sohnes Gottes selbst. Aus diesem Grund verehrt die Assyrische
Kirche des Ostens die Jungfrau Maria als Mutter Christi, unseres Gottes und
Heilandes'. Im Licht desselben Glaubens wendet sich die katholische Überlieferung an die
Jungfrau Maria als Mutter Gottes' und Mutter Christi'. Wir anerkennen beide
die Rechtmäßigkeit und Richtigkeit dieser Ausdrucksformen desselben Glaubens und achten
beide, was die einzelne Kirche jeweils in ihrer Liturgie und ihrer Frömmigkeit bevorzugt.
Dies
ist der eine Glaube, den wir im Geheimnis Christi bekennen. Die Auseinandersetzungen haben
in der Vergangenheit dazu geführt, einzelne Personen oder Formulierungen mit dem Anathema
zu belegen. Der Geist des Herrn läßt uns aber heute besser verstehen, daß die auf diese
Weise erfolgten Spaltungen großenteils auf Mißverständnisse zurückzuführen sind.
Was
immer unsere christologischen Meinungsverschiedenheiten gewesen sind, so wissen wir uns
heute geeint im Bekenntnis desselben Glaubens an den Sohn Gottes, der Mensch geworden ist,
damit wir aus Gnade Kinder Gottes werden konnten. [...]
Wenn
die Teilkirchen der katholischen Kirche und die Teilkirchen der Assyrischen Kirche aus
diesem Glauben und diesen Sakramenten leben, können sie sich infolgedessen gegenseitig
als Schwesterkirchen anerkennen. Die vollständige und vollkommene Gemeinschaft setzt die
Einheit im Glauben, in den Sakramenten und in der Kirchenverfassung voraus. Da diese
Einheit, die wir anstreben, noch nicht erreicht ist, dürfen wir leider noch nicht
gemeinsam die heilige Eucharistie feiern, die Zeichen der bereits wieder völlig
hergestellten kirchlichen Gemeinschaft ist."
Rom, den 11. November 1994 |