R e p o r t a g e a u s C h i a p a s |
D i e B e g e g n u n g m i t J e s u s C h r i s t u s u n d d e r S c h r e i d e s A r m e n . |
Unser tägliches Staunen
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Raúl Vera López, Bischofskoadjutor von San Cristóbal, begrüßt die Gläubigen bei einem Pastoralbesuch in einer Gemeinde. Der 52jährige Dominikaner ist seit 1995 Koadjutor von Ruiz García mit dem Recht auf Nachfolge. Nach dem Blutbad von Acteal hat Vera López von einer Vernichtungsstrategie" gesprochen, wie sie gegen die campesinos und die Ureinwohner Guatemalas durchgeführt wurde". |
Der
Herr hat uns in unserem großen Leid nicht verlassen." Mit diesen Worten schließt
der Bischofskoadjutor von San Cristóbal de las Casas, Raúl Vera López, seine Ansprache
an die Pilger, die von dieser kleinen Stadt im Bundesstaat Chiapas aus nach Guadalupe
aufbrechen. Zwei Tage später werden sie das Ziel ihrer Wallfahrt, auf der sie die
wichtigsten Städte dieser leidgeprüften Region besuchen, das Marienheiligtum erreichen
und die Jungfrau von Guadalupe, die Patronin von Amerika, um Frieden für ihre Region
bitten. Der Bischof wird die Pilger allerdings nicht begleiten, sondern nur am Dienstag,
den 20. Januar, die heilige Messe zum Abschluß der Wallfahrt gemeinsam mit ihnen feiern.
Wir erfahren den Grund für sein Fernbleiben, als er uns einlädt, ihn an diesem warmen
Sonntag im Januar zu begleiten.
Seinen
Tag verbringt Vera López großenteils auf den gewundenen Straßen, die durch Orte
führen, deren Namen von den Mayas abstammen. Die erste Station ist die kleine Kirche zum
heiligen Franziskus der Gemeinde von Saravia, die zur Pfarrei San Sebastián in Comitan
gehört, einer kleinen Stadt, etwa hundert Kilometer von San Cristóbal de las Casas.
Empfangen
wird Vera López von der Musikgruppe" der Gemeinde: fünf Indios mit einer
kleinen Trommel und Blasinstrumenten begleiten ihn auf einer staubigen Straße bis zur
kleinen Kirche. Vor der Kirche zum heiligen Franziskus haben sich zwei Menschenschlangen
gebildet. Der Bischof könnte inmitten der Gläubigen einen triumphalen Einzug halten.
Statt dessen bleibt er bei jedem einzelnen stehen, ohne auch nur einen einzigen zu
vergessen, und begrüßt alle: die einen mit einer Umarmung, die anderen mit einem
Händedruck, und wieder andere mit einer Liebkosung - einfache Gesten eines guten Hirten.
Auch in der Kirche wiederholt sich dieselbe Szene. Dann beginnt die Meßfeier. Es ist eine
feierliche Messe: heute empfangen 160 Mitglieder der Gemeinde das Sakrament der Firmung.
Das Ergebnis eines arbeitsreichen Jahres der Vorbereitung in der Pfarrei. Doch vor allem
ist es das Ergebnis der indianischen Katecheten, die inmitten des Unrats, der Armut, der
Einschüchterungen und der Gewehrkugeln in ihrer Einfachheit den katholischen Glauben
weitergegeben haben. Denn hier ist für ein ungeheuer großes Gebiet nur ein Pfarrer
zuständig. In der Kirche zum heiligen Franziskus wird nur einmal im Monat die heilige
Messe gefeiert, an anderen Orten noch seltener. Daher ist die Katechese großenteils Sache
der Laien, die alle Indios sind", erklärt uns Pater Ottavio, der Vera López
zusammen mit einem Mitbruder in diesen Tagen begleitet, bevor er seine neue Pfarrei in
Guatemala übernehmen wird.
Die
Feier der heiligen Messe ist schlicht, es wird gesungen, laut gebetet, und bei der
Wandlung knien alle nieder. Am Ende werden die Gläubigen aufgefordert, die Wallfahrt zur
Jungfrau von Guadalupe mit ihren Gebeten zu begleiten. Zum Gedenken an das Blutbad von
Acteal wird die Gemeinde auch eine Novene halten: neun Tage lang sollen sich die Frauen
schwarz kleiden und die Männer Trauerkleider tragen.
Dann
folgt das Mittagessen. Bischof Vera López wird in ein Zimmer neben der Kirche gebeten.
Dort sind auf einem Pappteller ein Stück Huhn und ein Häufchen Reis zubereitet, als
Besteck dient ein Plastiklöffel. Für den Gast stehen auch Wasser und ein Stück Seife
zum Händewaschen bereit, was für diese Gegend ungewöhnlich ist.
Vera
López wurde von Paul VI. im Petersdom zum Priester und von Johannes Paul II. zum Bischof
geweiht. Im August 1995 ernannte der Papst ihn zum Erzbischofskoadjutor von San Cristóbal
de las Casas und stellte ihn Samuel Ruiz García zur Seite. Viele sahen darin eine
Ernennung zum Bischof der Indios. Auch ich habe dies in den Zeitungen gelesen",
scherzt Vera López. In Wahrheit kenne ich Ruiz García seit 25 Jahren. Ich erinnere
mich noch an den Tag, als ich ihn in einen Teil seiner Diözese begleitet habe. Unsere
Führer schlugen uns mit der Machete den Weg frei, und wir mußten uns vor Schlangenbissen
hüten. In den vergangenen Jahren habe ich eng mit ihm zusammengearbeitet. Oft haben wir
beide bis 5 Uhr früh im Conai (dem Diözesandezernat für Aussöhnung) zusammen gesessen
und Berichte abgefaßt: ich rechts' und er links'? Das ist bloß ein
Scherz." Dann wird er wieder ernst und fährt fort: Sicher, wenn ich die Lage
verkannt hätte, hätte ich leicht der Bischof der Gegner Ruiz Garcías werden
können." Insbesondere meint er damit die coletos auténticos, die Weißkrägen. Es
handelt sich dabei um eine kleine Gruppe von Großgrundbesitzern aus San Cristóbal de las
Casas, die behaupten, von den spanischen conquistadores abzustammen. Die Weißkrägen
haben Ruiz García schon lange den Krieg erklärt und ihm alles Mögliche nachgesagt. Sie
warfen ihm beispielsweise vor, die Katholiken in verschiedene Lager zu spalten, nur um die
Interessen der Indios der Region zu wahren. In ihrer Sorge um die Religion haben sie
mehrmals Ruiz Garcías Kopf verlangt, und 1993 besetzten sie sogar die Kathedrale. Doch
ihre Hoffnungen haben sich nicht erfüllt, und Ruiz García ist noch immer im Amt.
Wir
fragen Bischof Vera López nach der tragischen Lage im Bundesstaat Chiapas und was er
über das Blutbad von Acteal weiß. Ich war gerade am Flughafen, um nach Spanien zu
fliegen, als ich die Nachricht erfuhr. Ich bin abgereist und habe in Sevilla die Lage
angeprangert." Seine Erklärungen haben ihm eine gerichtliche Vorladung eingebracht.
Man wollte ihn damit einschüchtern. Ich habe nur gesagt, was sowieso alle
sehen", lenkt er ein. Das Problem ist aber nicht allein das Blutbad von Acteal,
bei dem 45 Personen ums Leben kamen. In den Zeitungen sorgte es für Schlagzeilen, weil
gleich 45 Personen auf einmal den Tod fanden. Doch das ist nicht alles. Im Norden des
Bundesstaates Chiapas sind in einem Jahr mindestens 150 Menschen umgekommen, und aus
einigen Orten können die verängstigten Menschen nicht einmal fliehen, weil sie
eingekesselt sind. Und daran hat sich bis heute nichts geändert." Vera López macht
eine Handbewegung und stößt einen Seufzer aus, die vieles einschließen: Leben und Tod,
Frieden und Krieg. Doch Angst kennt er nicht. Seine blauen Augen leuchten, als sein Blick
über seine eingeborenen Freunde am Tisch gleitet.
Das
Mittagessen ist zu Ende. Es geht zu einer anderen Kirche: jetzt ist die Kirche zur Virgen
del Carmine in Las Margaritas an der Reihe, die ebenfalls zur Pfarrei San Sebastián
gehört. Auf einem Plakat an der Kirchenmauer ist zu lesen, daß die Verehrung des
heiligen Sebastians darauf zurückzuführen ist, daß die in der Regel kriegerischen
Völker Amerikas in ihm den tapferen christlichen Soldaten sehen konnten, der sie als
Verstärkung in das friedliche Heer Christi, des Königs, einreihte." Auch hier ist
die Kirche überfüllt. 140 Gemeindeglieder empfangen das Sakrament der Firmung. Was Vera
López während des Mittagessens gesagt hat, wird hier mehr als bestätigt: Was mich
an diesen Menschen hier beeindruckt hat? Die überfüllten Kirchen, der Glaube dieser
Indios. Bedenken Sie, daß diesen Katecheten oft gedroht wird: Wenn du hierher zum
Beten kommst, bringen wir dich um.' Und sie kommen trotzdem." Alles ist schlicht,
ohne Pathos, ohne Rhetorik. Ihre Katechese ist nicht abstrakt, sondern ihr
Leben." Es folgt ein kleiner Imbiß; er ist einfach und deshalb umso mehr zu
schätzen. Es ist Abend, Zeit zu gehen. Der Bischof verabschiedet sich lächelnd aus
seinem Auto. Er ist froh darüber, bei den Seinen zu sein. Er ist nicht nur die Stimme der
Armen, sondern ein Hirte, der seine Herde nicht nur leitet, sondern über das
Glaubensleben wacht, das die Gnade in ihr erweckt und das jetzt in großer Gefahr ist.
Vera López läßt sich vom Haß der Welt nicht beeindrucken. Die Macht dieser Welt,
der Neoliberalismus, oder wie sie es nennen, die Globalisierung, ist nichts Neues. Das
Neue sind sie." Er deutet auf zwei Katecheten. In ihrer Wehrlosigkeit haben
diese armen Indios eine starke und unbeugsame Regierung wie die mexikanische ins Wanken
gebracht."
Wir
wollten zur Jungfrau von Guadalupe pilgern, um den Frieden zu erflehen und die Welt auf
unsere Lage aufmerksam zu machen", hatte Ruiz García heute morgen auf der Schwelle
zur Kathedrale gesagt. Das ist jetzt nicht mehr so wichtig. Wir schließen uns nun
dieser Wallfahrt an als Zeugen einer neuen Hoffnung."