R e p o r t a g e   a u s   C h i a p a s
D i e   B e g e g n u n g   m i t   J e s u s   C h r i s t u s    u n d   d e r   S c h r e i   d e s    A r m e n .
 
Eine Patrouille der Zapatistischen Nationalen Befreiungsarmee (EZLN) beim Vorstoß in das Gebiet um Realidad. Der Aufstand der Zapatisten hat am 1. Januar 1994 begonnen. Damals trat auch das Nafta-Abkommen in Kraft, das die Handelsbeziehungen zwischen Mexiko, Kanada und den USA erleichtert.


von Davide Malacaria


     Der Bundesstaat Chiapas, die Armut der Indios, die von „Subcomandante" Marcos geführte Zapatistische Nationale Befreiungsarmee (EZLN), die Gegenschläge der paramilitärischen Gruppen: das alles findet schon seit langem in der Presse große Beachtung. Obwohl der Bundesstaat in hellem Rampenlicht steht, bleibt er ein Rätsel, das nur schwer zu lösen ist. Wir wollen daher versuchen, einige wichtige Faktoren zu analysieren.
     San Cristóbal de las Casas ist das symbolische Zentrum der ganzen Geschichte. Die wunderschöne kleine Stadt, einst Juwel des mexikanischen Tourismus, ist nicht die Hauptstadt des Bundesstaates. Ihre Bedeutung liegt vielmehr in ihrer Geschichte, die eng mit dem Dominikaner Bartolomé de Las Casas verknüpft ist. Er war ihr erster Bischof, und ihm ist es zu verdanken, daß die Schikanen und Gewalttätigkeiten der spanischen conquistadores an den Ureinwohnern aufgedeckt und angeprangert wurden.
     In den siebziger Jahren stand die „Frage der Indios" in San Cristóbal de las Casas erneut im Vordergrund: Nach dem Indianerkongreß von 1974 entstand eine Bewegung, die, in verschiedene Fraktionen gespalten, den Protest der Nachkommen der Mayas, die von der herrschenden Klasse rücksichtslos ausgebeutet wurden, organisierte und lautstark ihre Rechte geltend machte. Initiativen wurden ins Leben gerufen, die die Großgrundbesitzer erschreckten, so daß sie sofort ihre bewaffneten Einheiten, die sogenannten Weißen Garden verstärkten. Die geopolitische Lage des Bundesstaates verschlimmerte die Lage nur noch. Denn der Bundesstaat Chiapas ist der südlichsten Zipfel von Nordamerika, sozusagen das Tor zu Mittel- und Südamerika und gehört daher zu jenen Gebieten, an denen die USA ein nur allzu offensichtliches politisches Interesse zeigen.
     Die Wende hat gegen Ende der achtziger Jahre Präsident Salinas De Gortari herbeigeführt, als er ins neoliberalistische Lager überwechselte. Mexiko hatte die Frage der Indios seit langem dadurch gelöst, daß es den einzelnen Gemeinschaften ejidos zugestand, Kollektivland, das die Gemeinden als Ackerland wieder an die Besitzer verteilten. Sie durften das Land zwar bebauen, nicht aber veräußern. Mit de Gortaris Entschluß fiel die Unveräußerlichkeitsklausel weg: wem Land zugeteilt wurde, der konnte es nun auch verkaufen. Doch die einzigen, die davon profitierten, waren die Großgrundbesitzer, denn nur sie hatten auch genügend Geld, um Land zu kaufen. Für die Gemeinden hingegen bedeutete das den Todesstoß: in den Gebieten, wo sich diese Praxis bereits durchgesetzt hatte, führte sie zu deren Zerfall, und die Indios, bereits arme Bauern, wurden zu Tagelöhnern degradiert, die am Rande des Existenzminimums lebten, während auf der anderen Seite der Reichtum einer kleinen Oligarchie sprunghaft anstieg.
     Im Laufe der Jahre entdeckte man zudem, daß die Region über verborgene Bodenschätze verfügt. Mehr als die Hälfte des Stroms von ganz Mexiko wird in Chiapas produziert, und dort befinden sich auch dreißig Prozent der Wasservorräte des Landes. Diese Schätze kommen den Ureinwohnern allerdings nicht zugute: 90 Prozent von ihnen lebt ohne Strom und Wasserversorgung. Um nur ein Beispiel zu nennen: in vielen Gemeinden besteht die Wasserversorgung im Ausheben von Zisternen, in denen sich dann das Regenwasser sammelt. Doch andere, auf den ersten Blick nicht so elementare Schätze, scheinen wertvoller zu sein, so daß sie sogar internationales Interesse geweckt haben. „Zwischen Guatemala und Chiapas hat man große Ölvorkommen entdeckt, die im guatemalischen Teil auch schon gefördert wurden. Bei der Suche nach Öl ist man außerdem noch auf ein großes Uranlager gestoßen", erklärt Andres Aubry, ein kompetenter Chiapas-Kenner und Leiter einer Untersuchung über die paramilitärischen Gruppen. Diese Reichtümer können seit der Öffnung der Grenzen zu Kanada und den USA durch das Nafta-Abkommen noch leichter gefördert werden und stehen daher noch mehr im Mittelpunkt des Interesses.
     Genau in dem Augenblick, als das Nafta-Abkommen in Kraft trat, entstand plötzlich wie aus heiterem Himmel die Zapatistische Nationale Befreiungsarmee, die sich auf die Revolution Emiliano Zapatas zu Beginn des 19. Jahrhunderts berief. Am 1. Januar 1994 übernahm eine Einheit der Guerilla ohne Blutvergießen für einen Tag in der Stadt San Cristóbal de las Casas die Macht und gab somit den Anstoß zu einer Reihe von Aktionen. Die Guerilla forderte auf lokaler und nationaler Ebene die Wiedergutmachung des am Volk begangenen Unrechts und die Garantierung einer gewissen Autonomie in dieser Region, insofern sie eng mit der Kultur und der Überlieferung der Indios verbunden ist. Im Laufe der Zeit wurde die EZLN überall immer beliebter. Die compañeros wurden schon bald heimlich logistisch und durch Schenkungen unterstützt. Diese Unterstützung hat sich auch auf internationaler Ebene ausgeweitet, was darauf zurückzuführen ist, daß die Waffe der Guerillaorganisation weniger das Maschinengewehr als vielmehr das Internet ist.
     Um der Ausweitung des Konflikts entgegenzuwirken, gründet die Diözese San Cristóbal de las Casas den Conai, eine Diözesanorganisation, die mit der Regierung und mit der EZLN verhandelt und versucht, eine friedliche Lösung für die Befriedigung der Ansprüche des Volkes zu finden - Ansprüche, die die Regierung, wie sie zumindest sagt, durchaus kennt und zu lösen gewillt ist. Es ist kein einfacher Dialog, und mit Kritik an Bischof Ruiz wird nicht gespart, nicht einmal von seiten der kirchlichen Würdenträger Mexikos. In der Zwischenzeit erlebte Mexiko auch eine große Wirtschaftskrise. 1994 kam es in Mexiko-Stadt zum Börsensturz, und nur ein entschiedenes Eingreifen der USA konnte das Schlimmste verhindern.
     Die Repressionen gingen weiter, und die Guerilla setzte ihren Kampf fort. Nach langem Tauziehen von Februar bis Juli 1996 unterzeichneten dank der Vermittlung des Conai die Regierung und die EZLN das Abkommen von San Andrés. Das Abkommen könnte dem Konflikt ein Ende setzen, wenn es bis heute nicht nur auf dem Papier bestünde.
     Unterdessen hatten sich im Bundesstaat Chiapas seit 1996 paramilitärische Gruppen mit unterschiedlichen und bizarren Namen gebildet: Paz y Justicia, Máscara roja, usw. Dabei handelt es sich um neue Organisationen, die zu den bereits bestehenden Weißen Garden hinzukommen, sich einerseits zum Teil mit ihr vereinen, sich aber andererseits durch nie dagewesene reaktionäre politische Merkmale von ihr unterscheiden. Die Lage gerät außer Kontrolle. Die paramilitärischen Einheiten schüchtern die Bevölkerung ein, ziehen plündernd und mordend durchs Land und schrecken auch vor wahren Massakern wie in Acteal nicht zurück. Die Regierung erklärt diese Zuspitzung des Konflikts als lokales Phänomen. Um die Lage offiziell in den Griff zu bekommen, entsendet sie Truppen in jene Region. Doch die EZLN und die Diözese von San Cristóbal sprechen hingegen von einer gesteuerten Gegenrevolution. Ein Plan, der, wenn auch vielleicht nicht von der Regierung als solcher, so doch zumindest von einigen ihrer Mitglieder unterstützt und finanziert wird. Es heißt, in Chiapas entfalte sich ein „schwelender Stellvertreterkrieg". In einem Dokument, das das Zentrum für Menschenrechte Fray Bartolomé de Las Casas, eine Einrichtung der Diözese, die Daten über die Schikanen gegenüber dem Volk seitens der öffentlichen Autoritäten (Anzeigen von desaparecidos, von illegalen Verhaftungen, Folterungen) sammelt und verbreitet, veröffentlicht hat, wird der „schwelende Stellvertreterkrieg" mit den Worten eines amerikanischen Offiziers definiert, der meinte: „Eine politisch, militärisch und wirtschaftlich weniger aufwendige Möglichkeit ist ein langer Zermürbungskrieg, der als schwelender Stellvertreterkrieg zu verstehen ist. Er läßt allerdings die Möglichkeit einer Invasion offen und geht die Konflikte in einer globalen Sicht an. Indem man militärische, politische und psychologische Elemente, intelligence und Kontrolle der Bevölkerung kombiniert, versucht man durch diese Initiative, die Streitkräfte der verbündeten Dörfer zu stärken und kontra-revolutionäre Bewegungen zu fördern, die der Ausgangspunkt zur Lösung des Konflikts sein sollen." Und in der Tat kann man feststellen, daß seit dem Erscheinen der paramilitärischen Einheiten Armut, Angst und Unsicherheit ebenso drastisch gestiegen sind wie die Zahl der Vertriebenen, von Menschen, deren Häuser abgebrannt und deren Land beschlagnahmt wurde und die nun die Flüchtlingslager in Chiapas füllen. Die Regierung leugnet, die Verantwortlichen und Täter dieser Gegenrevolution zu unterstützen oder ungestraft zu lassen. „Doch bisher ist keine einzige paramilitärische Gruppe aufgelöst worden", meint Aubry weiter. In den mexikanischen Zeitungen liest man immer öfter von der Unterstützung der paramilitärischen Einheiten durch das Militär. Eine der bekanntesten Wochenzeitungen Mexikos, Proceso, hat am 4. Januar ein geheimes Dokument der Armee über die Chiapas-Frage veröffentlicht. Wir fassen hier kurz die wichtigsten Ziele, wie sie die Wochenzeitung wiedergibt, zusammen: „Die Medien zensieren, die Massenorganisationen kontrollieren, heimlich zivile Sektoren kooptieren." Und weiter heißt es: „Paramilitärische Banden gründen, die Bevölkerung vertreiben, die Stützpunkte der EZLN zerstören."
     Das Blutbad von Acteal am 22. Dezember hat die Welt erschüttert. Auch der Papst hat vier Tage später seine Bestürzung über den Vorfall geäußert. Unter dem Druck der Öffentlichkeit ist die mexikanische Regierung jetzt sehr darauf bedacht, ihren guten Willen zur Schau zu stellen und transparent zu sein. Daher ist jetzt der richtige Moment, um den Weg der Versöhnung einzuschlagen. Als Alternative bliebe nur der Völkermord.