R e p o r t a g e   a u s   C h i a p a s
D i e   B e g e g n u n g   m i t   J e s u s   C h r i s t u s    u n d   d e r   S c h r e i   d e s    A r m e n .

Beim Gebet ermordet

Ein Interview mit dem Erzbischof von Mexiko-Stadt,
Norberto Rivera Carrera, der von Johannes Paul II.
beim letzten Konsistorium am 21. Februar
zum Kardinal ernannt wurde.

von Andrea Tornielli



     Vor zwei Jahren war er nur ein junger Bischof einer kleinen mexikanischen Diözese namens Tehuacán. Zu aller Überraschung hat ihn Johannes Paul II. zum Nachfolger von Kardinal Ernesto Corripio Ahumada, dem Primas und Erzbischof von Mexiko-Stadt, ernannt. Und nun hat er beschlossen, ihn zum Kardinal zu erheben. Der offene und beim Volk beliebte zukünftige Kardinal hat seit Antritt seines Amtes in der mexikanischen Hauptstadt zahlreiche Ungerechtigkeiten und Verbrechen angeprangert, die das amerikanische Land mit Blut befleckt haben.

     Wie beurteilen Sie das Massaker kurz vor Weihnachten im Bundesstaat Chiapas?
     NORBERTO RIVERA CARRERA: Dieser Vorfall ist nicht nur aus religiöser Sicht als abscheuliches Verbrechen zu bezeichnen, als irrationale Tat, für die es überhaupt keine Rechtfertigung gibt. Es gilt, die Auswüchse in den gesellschaftlichen Beziehungen in Chiapas zu stoppen, um durch Erziehung und Glauben Handlungsräume zu schaffen, in denen unter der Bevölkerung wieder Eintracht entstehen kann. Das Verbrechen von Acteal ist mittlerweile allseits bekannt und verurteilt worden. Leider werden auch weiterhin noch viele andere, weniger bekannte verübt, die ungestraft bleiben.
     Glauben Sie, daß die Opfer als Märtyrer zu bezeichnen sind?
     RIVERA CARRERA: Die bisherigen Erkenntnisse reichen noch nicht aus, um diese Annahme zu bestätigen oder zu beweisen. Es wäre sicherlich angebracht, wenn die Kirche eine gründliche Untersuchung durchführte, um diesen Gesichtspunkt der Tragödie zu klären, das heißt ob unsere Brüder und Schwestern, die beim Gebet ermordet wurden, um ihres Glaubens willen den Tod erlitten. Einigen Stimmen zufolge haben die Gläubigen von der Gefahr gewußt, in die sie sich begaben, als sie an der Andacht teilnahmen. Diese Möglichkeit ist ernsthaft zu erwägen und zu prüfen. Die Kirche könnte dann mit der nötigen Klugheit und Umsicht weiter verfahren. Sich hier bereits ein Urteil zu erlauben oder sogar das Blut eines Verbrechens parteipolitisch auszunutzen, ist völlig unverantwortlich.
     Was sind Ihrer Meinung nach die Hintergründe für dieses Blutbad? Hat man die Schuldigen bereits ausfindig gemacht?
     RIVERA CARRERA: Es war bisher von verschiedenen möglichen Drahtziehern die Rede. Die einen sagen, es habe sich um einen Racheakt einer anderen ethnischen Gruppe von Eingeborenen gehandelt. Andere behaupten, es handele sich um ein vorsätzliches Verbrechen von Machtgruppen, die damit einen militärischen Einmarsch der Streitkräfte in die Konfliktgebiete herbeiführen wollen - eine Provokation gegenüber der Regierung, die so viele unschuldige Opfer, einschließlich Frauen und Kinder, gekostet hat. Einige derjenigen, die die letztgenannte These vertreten, vermuten sogar - doch meines Erachtens ist dies eine absurde These -, die Regierung selbst habe dieses Massaker geplant. Dies ist, und ich bestehe darauf, weder glaubhaft noch vertretbar. Es ist Aufgabe der mexikanischen Justiz, und dies ist wirklich das Entscheidende, die Schergen und die Drahtzieher dieses Blutbades ausfindig zu machen und zu bestrafen, um in diesen so leidgeprüften Gebieten unseres Landes die Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen. Die Schuldigen müssen unbedingt bestraft werden. Aus der Straffreiheit entstehen Willkürakte und Ungerechtigkeiten, die im Gegensatz zum Evangelium Jesu Christi stehen. Leider sind wir skeptisch, weil einige schwere Verbrechen, die unsere Heimat getroffen haben, noch immer nicht aufgedeckt und die Verantwortlichen noch nicht gefunden worden sind.

Die Worte von Johannes Paul II.

     Mittlerweile sind fast zwanzig Jahre vergangen, seit Johannes Paul I. (dessen unvorhergesehener Tod ein reales Opfer war) in Treue zur Heiligen Schrift und zur Überlieferung daran erinnerte, daß die Unterdrückung der Armen eine himmelschreiende Sünde ist. Wir geben im folgenden seine Worte wieder, die er anläßlich seiner Amtseinführung am 23. September 1978 in der Kathedrale von Rom, der Lateranbasilika, gesprochen hat: „Einige seiner Worte [des Bürgermeisters von Rom] riefen mir ein Gebet in Erinnerung, das ich als kleines Kind mit meiner Mutter gebetet habe. Es lautet wie folgt: ‚Die himmelschreienden Sünden sind: [...] die Armen zu unterdrücken, den Arbeitern den gerechten Lohn vorzuenthalten.' Der Pfarrer fragte mich im Katechismusunterricht: ‚Welches sind die himmelschreienden Sünden, und weshalb sind sie so schwer und verhängnisvoll?' Und ich antwortete mit dem Katechismus von Pius X.: ‚Weil sie sich unmittelbar gegen das Wohl der Menschheit richten und so abscheulich sind, daß sie mehr als andere die Strafen Gottes herbeiführen.'"

     Welche Haltung nimmt die mexikanische Kirche gegenüber den Ereignissen im Bundesstaat Chiapas ein?
     RIVERA CARRERA: Die Haltung ist unverändert: Verkündigung und Anprangerung im Einklang mit dem Evangelium unseres Herrn Jesus Christus, der sich besonders den Armen und Entrechteten zugewandt hat. Die Kirche ist nicht müde geworden, in diesen Gebieten das Evangelium zu verkünden. Sie hat unermüdlich die Würde unserer eingeborenen Brüder und Schwestern gewahrt und ihre Rechte auf eine ganzheitliche Entwicklung verteidigt - auf eine Entwicklung, die alle Aspekte ihres Lebens umfaßt: den sozialen, den politischen, den ethischen und den religiösen. Gerade dieser Einsatz machte es erforderlich, die unzähligen Ungerechtigkeiten in dieser Region anzuprangern: von der ungleichen Verteilung des Reichtums bis zur politischen Manipulation der ethnischen Gruppen. In diesem Sinn wurden der katholischen Kirche in Chiapas viele Absichten unterstellt, die nicht der Wahrheit und Wirklichkeit entsprachen. Die Kirche verfolgt keine politischen Ziele oder Strategien. Sie besteht nur auf der dringenden Schaffung der notwendigen Voraussetzungen für den Frieden, der unabdingbare Prämisse für die Entwicklung ist. An diesen Bemühungen müssen sich die Regierung, die politischen Parteien, die Gemeinschaften der Eingeborenen beteiligen - und auch die katholische Kirche, die zu einem immer entscheidenderen Faktor bei der Schaffung von Frieden werden muß.
     Unmittelbar nach dem Massaker haben Sie gesagt: „Es genügt nicht, wenn man die Verbrechen verurteilt, sondern man muß auch ihre Ursachen beseitigen." Was wollten Sie damit sagen?
     RIVERA CARRERA: Es gilt, die Faktoren zu erkennen, die in Chiapas Gewalt erzeugen, um so neue Auseinandersetzungen oder Blutbäder wie in Acteal zu verhindern. Es hat keinen Sinn, unnötig Zeit mit Verurteilungen zu verlieren, die doch nur auf dem Papier stehen. Die Schaffung und Erreichung der wirtschaftlichen, politischen, sozialen und religiösen Verhältnisse, die eine Wiederholung dieser traurigen Ereignisse verhindern, ist dringendes Gebot der Stunde. Dialog allein genügt nicht, die notwendigen Verfassungsänderungen reichen nicht aus. Es muß vielmehr die äußerste Armut unserer Brüder und Schwestern im Bundesstaat Chiapas und im übrigen Land überwunden werden.
     Unternimmt die mexikanische Regierung etwas, um die Armut der Indios zu lindern?
     RIVERA CARRERA: Aus der Presse haben wir erfahren, daß die Regierung an einem umfassenden Entwicklungsprojekt für diese Region arbeitet. Es handelt sich zweifellos um eine beachtliche Bemühung von seiten der Bundesregierung. Dennoch müssen Zivilgesellschaft und Regierung aufpassen, daß diese Projekte auch wirklich ehrlich und wirksam durchgeführt werden und so den Lebensstandard aller Einwohner im Bundesstaat Chiapas ohne politische, rassistische oder religiöse Diskriminierung verbessern. Leider haben wir auch in jüngster Zeit wiederholt feststellen müssen, daß mit solchen Projekten Mißbrauch getrieben wurde. Viele meinen, die jetzige Regierung von Mexiko wolle die Diskriminierung und das große Elend in Chiapas beseitigen. Wir müssen den Herrn bitten, daß die Behörden diesen Vorsatz nicht aufgeben. Alle Mexikaner guten Willens müssen sich an diesem Vorhaben beteiligen.
     Warum haben Sie unmittelbar nach dem Massaker gesagt, was in Acteal geschehen ist, sei „angekündigte Gewalt" gewesen?
     RIVERA CARRERA: Wenn Sie irgendwo Rauch sehen, wissen Sie, daß es dort brennt. Wenn Sie aus vertrauenswürdigen Quellen wissen, daß die verschiedenen Fraktionen, die sich im Bundesstaat Chiapas gegenseitig bekämpfen, über große Waffenarsenale verfügen, dann ist es nur zu logisch, daß die befeindeten Parteien irgendwann aufeinander schießen und sich nicht bloß Worte an den Kopf werfen. Seit vielen Jahren - und verschiedene Dokumente beweisen dies - hat die Kirche versucht, die Zivilgesellschaft und die Regierung auf die ständige Aufrüstung in dieser Region und demzufolge auf das Pulverfaß, auf das Klima der Gewalt, die dann leider offen ausgebrochen ist, aufmerksam zu machen. Es wäre noch hinzuzufügen, daß Gewalt und Klassenkampf in dieser Region lange Zeit verherrlicht wurden.