Und die Demokratie
schlug Wurzeln
Die Wahlen aus der Sicht des heutigen italienischen Staatspräsidenten. Es war eine wahrhaft historische Kampagne für den Frieden, die Freiheit und die Würde Italiens sowie der Beginn einer wirklichen Auferstehung, die zum Wirtschaftswunder" geführt hat. |
von Oscar Luigi Scalfaro |
Oscar Luigi Scalfaro hält eine Rede während des Wahlkampfes für die Wahlen des 18. April in Novara. |
Sehr
geehrter Herr Senator Andreotti, Sie bitten mich, zu schildern, wie ich vor 50 Jahren die
Zeit um den 18. April erlebt habe. Das will ich gerne tun und mich dabei auf einen kurzen
Abriß beschränken.
Wir
hatten gerade erst ein wichtiges und tiefgreifendes Ereignis hinter uns: die
verfassungsgebende Versammlung und die Verkündung der neuen Verfassung am 1. Januar, die
eine bedeutende Erklärung der Rechte der menschlichen Person darstellte.
Alles,
was ich bei der Katholischen Aktion gelernt hatte und was man mir an der Katholischen
Universität vom Heiligsten Herzen beigebracht hatte, stand jetzt in einem Dokument
geschrieben, das für das italienische Volk von grundlegender Bedeutung war.
Die
Grundlage des Wahlkampfes bildete die Verteidigung dieser für die Demokratie
unerläßlichen Werte.
De
Gasperi, eine unnachahmliche Führungspersönlichkeit, leitete die große Kampagne zur
Verteidigung der Werte und Rechte der Person und des Bürgers. Er bezichtigte die
Demokratische Front des PCI Togliattis und des PSI Nennis des Betrugs", weil
sie hinter dem roten Banner mit Hammer und Sichel das Gesicht Garibaldis verbarg und der
sowjetischen Lehre tief verbunden war.
Es war
ein harter Kampf, ein sehr harter Kampf: aber auch ein faszinierender Kampf, der stark im
Zeichen bedeutender Prinzipien stand.
So kam
es zu immer mehr Versammlungen, die normalerweise auf den Plätzen stattfanden; es waren
Versammlungen, die ich wegen ihrer Spontaneität, der Gespräche, der
Auseinandersetzungen, der Polemik nie vergessen werde, denn hinter all dem standen stets
lebhafte und starke menschliche Beziehungen.
Nie kam
es zu beleidigenden, persönlichen Angriffen.
Ich
glaube, ich habe unzählige Male gesprochen. Mit 20 Jahren hatte ich begonnen, für die
Katholische Aktion in meiner Provinz und meiner Diözese Novara und in der näheren
Umgebung in der Öffentlichkeit zu sprechen; daher kannte man mich, und ich wurde immer
öfter gerufen.
Religiöse
Veranstaltungen, bei denen der Sieg der Freiheit gefeiert wurde, bestärkten uns in
unserem Engagement und hielten uns zur Stimmabgabe an.
In
dieser Zeit habe ich viele wertvolle Freundschaften mit Personen geschlossen, die selbst
als Sozialdemokraten und Laien an vorderster Front standen: auch das war eine
Bereicherung.
Die
Angst davor, daß die Kommunisten gewinnen könnten, ging um, doch die Mehrzahl kämpfte
aus Überzeugung und mit Begeisterung. Sie wäre bereit gewesen, alle damit verbundenen
Folgen zu tragen; so manch einer verbarg seine Angst hinter wenig geschmackvollen
Äußerungen gegen die Christdemokraten, aber es ist eben nicht jedermanns Sache,
aufrichtig zu sein!
Eines
der Ereignisse, die mir deutlich in Erinnerung geblieben sind, ist die Versammlung in
Novara, die De Gasperi abhielt.
Ich
glaube, De Gasperi hat in allen wichtigen Provinzhauptstädten gesprochen; die
Menschenmassen, die sich versammelten, um ihm zuzuhören, konnte man nicht zählen.
Er kam
auch nach Novara. Ich empfing ihn an der Autobahnausfahrt von Turin. Er hielt das Auto an
und ließ mich einsteigen; ich war der einzige Parlamentarier der Provinz und war mir der
Ehre, die mir zuteil wurde, durchaus bewußt. Die Flut von Gefühlen, die mich wegen der
Bewunderung und Sympathie, die ich für ihn empfand, überwältigte, war eine Mischung aus
Befangenheit, Bewegtheit und tiefer Freude. In Novara sprach er vor einer riesigen
Menschenmenge, und ich blieb immer in seiner Nähe.
Er
reiste sofort danach wieder ab; er sah müde aus, hinterließ aber das Bild eines von
seinen Idealen vollkommen überzeugten Mannes, der ein beeindruckendes Zeugnis abgegeben
hatte.
Die
riesige Menschenmenge, die ihm zugehört hatte, war von seiner Aufrichtigkeit beeindruckt,
von seiner Art, gerade heraus zu reden, in einer nüchternen und klaren Sprache, aus der
man ein großes Verantwortungsbewußtsein und vor allem die Größe dieses einzigartigen
Mannes heraushören konnte.
Er
hatte einen Sieg errungen, einen vollkommenen Sieg, der allen ein Gefühl der Sicherheit
gab, ganz besonders denen, die gegen die Christdemokraten und ihre Verbündeten gekämpft
und gestimmt hatten.
Der
Nationalsekretär der Christdemokraten, Piccioni, unterstrich den Sieg mit einem seiner
prägnanten Sätze: Ich glaubte, es würde regnen, ich konnte nicht ahnen, daß es
eine Sintflut geben würde."
Aus
katholischen Kreisen waren Stimmen zu vernehmen, die offensichtlich einer politischen
Fehleinschätzung unterlagen und verlangten, die Christdemokraten sollten alleine
regieren, da sie eine nicht unbedeutende Mehrheit errungen hatten.
Der
einwandfreie Grundsatz De Gasperis ließ sich in wenigen Worten zusammenfassen: niemals
nur die Christdemokraten.
Und
dies war eine weitsichtige strategische Einschätzung.
Wir
Jugendlichen folgten fast alle De Gasperis Kurs.
De
Gasperi verlor nie seine überzeugende, sichere und gelassene Art: sich niemals zum
Hochmut des Siegers hinreißen lassen! Niemals!
Am Tag
nach dem Sieg (ja, genau am 19. April) habe ich Menschen getroffen, die für die
Volksfront Partei ergriffen hatten und deren Sieg ihnen sicher schien. Nun wollten sie
denen entgegenmarschieren, die sie als Sieger glaubten!... Leider nichts Neues unter der
Sonne!
Eine
Episode stimmte mich traurig und elend; in Novara wohnte ich neben dem Gebäude, das der
erste Sitz der G.I.L. (Italienische Faschistische Jugend, A.d.R.) und danach des PCI war.
Am
Morgen des 19. April, als ich zusammen mit anderen über diesen Platz ging, haben wir auf
dem Boden Dutzende von Parteiabzeichen des PCI entdeckt, die ihre Träger weggeworfen
hatten!
An
diesem 18. April hatte die Demokratie gewonnen und sich gefestigt.
Der
Sieg öffnete Italien die Tür zum internationalen Geschehen, wo man es nun als Land ohne
Mißverständnisse und Unsicherheiten ansah.
Er war
der Anfang einer Phase der Stabilität, die nicht von kurzer Dauer sein sollte.
Er
brachte die Verständigung von Politikern mit einer unterschiedlichen Herkunft, Kultur und
Geschichte, die in den Rechten der Person, der Freiheit, der Absage an jegliche Diktatur,
im Staatssinn einen gemeinsamen Nenner gefunden hatten.
Er
öffnete der Strategie von De Gasperi vom Nordatlantikpakt die Tür, der Italien vor
Kriegen und Unterdrückung bewahrte und den Frieden garantierte.
Dieser
Sieg trug die Namen De Gasperi, Einaudi, Saragat, Pacciardi, aber hinter ihnen stehen auch
die unbekannten Namen unzähliger Frauen, Männer und junger Menschen, die für die
Freiheit ihres Volkes alles gewagt hatten.
De
Gasperi gewann im In- und vor allem im Ausland an Prestige, was sich für Italien positiv
auswirkte.
Es war
eine wirklich historische Kampagne für die Freiheit, für die Würde Italiens, und sie
war der Beginn einer wirklichen Auferstehung, die zum Wirtschaftswunder"
geführt hat.
Das
Schicksal hat es gewollt, daß ich daran teilhaben durfte: für dieses Geschenk danke ich
Gott.