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TURINER GRABTUCH. Ein Interview mit dem Erzbischof von Turin, Giovanni Saldarini.
Unser Glaube
gründet in der
Auferstehung Christi"
...Und das Ereignis der Auferstehung hat die sicheren historischen Zeugnisse derer zur Grundlage, die den gekreuzigten und begrabenen Jesus gesehen haben und dann dem Auferstandenen mit demselben, allerdings verklärten Leib begegnet sind. Das Grabtuch verweist auf die Leiden Christi." Ein Gespräch mit Kardinal Saldarini. |
von Stefano M. Paci
18. April 1998. Kardinal Saldarini feiert die heilige Messe zur Eröffnung der Ausstellung des Grabtuchs, die bis zum 14. Juni 1998 dauern wird. |
Tausende stehen in Turin Schlange, um ein Leinentuch zu sehen. Es handelt sich aber nicht um irgendein Tuch, sondern um das wichtigste Linnen der Geschichte. Es steht immer noch im Mittelpunkt einer hitzigen wissenschaftlichen Debatte, die keine Anstalten macht, sich zu beruhigen. Ist das Linnen wirklich das Grabtuch Jesu Christi oder bloß eine mittelalterliche Fälschung, wie jene Wissenschaftler behaupten, die vor zehn Jahren eine Altersbestimmung nach der Radiokarbonmethode vorgenommen haben? Es ist sicherlich nicht leicht, in dieser Zeit Apostolische Verwalter des Grabtuchs zu sein. Die Ausstellung bewirkt nur, daß die Diskussionen wieder aufflammen. Kardinal Saldarini hat beschlossen, sich der Debatte zu entziehen und den Journalisten keine Interviews zu gewähren, die sich in großer Zahl bei ihm meldeten. Das folgende Gespräch ist daher die Ausnahme von der Regel.
Eminenz, der katholische Glaube hängt natürlich nicht davon ab, ob das Grabtuch nun
echt ist oder nicht. Dennoch darf dem Gläubigen die Frage, ob es sich um das Leinentuch
handelt, in das der Leichnam Jesu gehüllt war, nicht gleichgültig sein. Was meinen Sie
zu dieser Frage?
GIOVANNI SALDARINI: Das Grabtuch bildet keine Glaubensgrundlage. Unser Glaube gründet
in der Auferstehung Christi, und das Ereignis der Auferstehung hat die sicheren
historischen Zeugnisse derer zur Grundlage, die den gekreuzigten und begrabenen Jesus
gesehen haben und dann dem Auferstandenen mit demselben, allerdings verklärten Leib
begegnet sind. Betrachtet man das Grabtuch als Hinweis auf die Leiden Christi, so stellt
es eine Hilfe auf dem Weg des Glaubens und der Liebe dar, und dies gilt unabhängig davon,
ob es nun echt ist oder nicht.
Es gibt keine stürmischen Beziehungen zwischen Glauben und Wissenschaft, was das Turiner Grabtuch angeht. Wenn überhaupt, dann gibt es eine dialektische Beziehung unter den Wissenschaftlern. Sie entsteht aus den unterschiedlichen Urteilen auf der Grundlage ihrer Untersuchungen. |
Einverstanden. Doch meines Erachtens ist dies nicht der springende Punkt. Nach
wissenschaftlicher Erkenntnis kann es sich bei dem Grabtuch nicht um ein Gemälde handeln:
In dem Tuch hat auf jeden Fall der Leichnam eines Menschen gelegen, der alle Martern und
schließlich den Tod am Kreuz erlitten hat, wie sie in den Evangelien berichtet sind. Wenn
es sich also nicht um das Grabtuch Christi handelt, sondern um eine mittelalterliche
Fälschung (wie die Ergebnisse des Radiokarbontests zeigen), dann ist das Grabtuch Relikt
eines Verbrechens. Das heißt, ein Mensch wurde genauso gefoltert und hingerichtet wie
Christus vor zweittausend Jahren. Wenn es also nicht echt ist, so handelt es sich um einen
Gegenstand, der Schauer auslöst. Wie kann man es dann den Gläubigen zur Verehrung
ausstellen?
SALDARINI: Über die Ergebnisse der Radiokarbontests ist man sich heute noch uneinig,
und es ist nicht meine Aufgabe, ihre Richtigkeit zu überprüfen. Ich schließe mich den
Aussagen meines Vorgängers, Kardinal Anastasio Ballestreros, bei der Bekanntgabe der
vernichtenden Ergebnisse der drei Labors an: Niemand zwingt mich, an die Ergebnisse
zu glauben. Die Wissenschaft soll über die Wissenschaft richten."
Das
Grabtuch, das die Gläubigen nun sehen und verehren können, hat seinen Wert als
Kultgegenstand nicht verloren, weil es direkt auf das Leiden Christi verweist und als Bild
demzufolge völlig echt ist (ganz nebenbei bemerkt: bisher hat noch niemand die Entstehung
des Bildes auf dem Grabtuch erklären können), dessen Wert in der großen Ehrfurcht vor
einem möglichen historischen Beweisstück besteht.
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Wäre es unter entsprechenden Vorsichtsmaßnahmen nicht möglich, das Grabtuch den
Gläubigen zur Verehrung häufiger oder ununterbrochen auszustellen? Was hindert den
Heiligen Stuhl eigentlich daran?
SALDARINI: Ich habe eine internationale Expertenkommission einberufen. Und diese hat
mir verbindliche Anleitungen zur besseren Aufbewahrung des Grabtuchs gegeben. Das Grabtuch
wird in Zukunft in einem waagerechten lichtgeschützten, luft- und wasserdichten Schrein
aufbewahrt werden, wobei Temperatur und Luftfeuchtigkeit ständig zu prüfen sind. Es wird
also nicht mehr wie bisher zusammengerollt. Würde das Grabtuch häufiger oder sogar
ununterbrochen ausgestellt, so wäre dies für seine Aufbewahrung äußerst schädlich.
Vor
einem Jahr hat ein heftiger Brand in der Nacht vom 11. zum 12. April die Guarini-Kapelle
zerstört. Das Grabtuch blieb zum Glück unversehrt. Am darauffolgenden Tag erklärten
Sie: Warum ist das geschehen? Es ist die nach Gottes Maßstab würdige Weise, sein
Fürchtet euch nicht!' zu sagen. Jetzt sind wir wirklich sicher, daß Er über das
Wasser geht, zu uns ins Boot steigt und uns ans Ufer bringt. Im Glauben danke ich für
dieses Zeichen."
Wollten Sie damit sagen, daß die unversehrte Bewahrung des Grabtuchs ein Wunder ist?
SALDARINI: Ich wollte einfach nur sagen, daß der Herr uns nahe war. Aufgrund der
Sicherheitsvorkehrungen für die Doppelglasvetrine, in der sich der Schrein befindet, und
vor allem aufgrund des unverzüglichen Einsatzes der Feuerwehrleute hat der Brand dem
Grabtuch keinen Schaden zufügt.
Sind in naher Zukunft neue Untersuchungen am Grabtuch vorgesehen? Haben Sie in dieser
Hinsicht Anfragen erhalten?
SALDARINI: Ich bin nur der Apostolische Verwalter des Grabtuchs, dessen Besitzer der
Heilige Stuhl ist. Die Entscheidung zur Genehmigung möglicher weiterer Untersuchungen
liegt daher im Vatikan.
Wir wollen auf die Beziehung zwischen Glauben und Wissenschaft zu sprechen kommen.
Wegen der Polemik über die Echtheit des Grabtuchs, die man in den Zeitungen nur allzuoft
findet, heißt es häufig, hinsichtlich des Grabtuchs sei diese Beziehung stürmisch. Ist
dies wirklich so?
SALDARINI: Es gibt keine stürmischen Beziehungen zwischen Glauben und Wissenschaft,
was das Turiner Grabtuch angeht. Wenn überhaupt gibt es eine dialektische Beziehung unter
den Wissenschaftlern. Sie entsteht aus den unterschiedlichen Urteilen auf der Grundlage
ihrer Untersuchungen. Die Kirche legt den wissenschaftlichen Forschungen keine Steine in
den Weg. Sie verlangt nur, daß die um das Grabtuch aufgeworfenen Fragen ernsthaft und
vorurteilslos behandelt werden: und zwar gemäß den spezifischen Kompetenzen der
Wissenschaftler, aber dennoch interdisziplinär. Beispielhaft hierfür ist bis heute, daß
es niemandem gelungen ist, die Entstehung des Bildes und seine Dreidimensionalität zu
erklären.
In diesem Jahrhundert wurde das Grabtuch nur dreimal ausgestellt. Die letzte
Ausstellung fand vor zwanzig Jahren statt, und nun folgen gleich zwei ganz kurz
nacheinander, nämlich innerhalb von nur zwei Jahren. Warum?
SALDARINI: Die Ausstellung im Jahr 1998 gehört zur Feier einiger wichtiger Jahrestage:
398 fand die erste Synode von Turin statt, 1498 wurde die neue Kathedrale eingeweiht, die
der Dominikanerkardinal Della Rovere hatte errichten lassen, und 1898 (streng genommen im
Mai vor hundert Jahren) machte Rechtsanwalt Secondo Pia die ersten Aufnahmen, mit denen
die Entdeckungen und die intensiven Forschungen und späteren Studien begannen. Die
Ausstellung im Jahr 2000 hängt mit der Feier des Großen Jubiläums zusammen.
Welche Bedeutung hat diese Ausstellung?
SALDARINI: Sie ist rein pastoral. Im Rahmen der religiösen Dimension der Wallfahrt
will sie durch die Betrachtung des Leidens Christi Gelegenheit zu intensivem Gebet und
radikaler Umkehr bieten. Die auf dem Grabtuch abgebildete Gestalt des Gekreuzigten und
seiner Wundmale ermöglichen in der Tat einen neuen und ergreifenden Zugang zu den
Berichten der Evangelien, da sie völlig mit den Berichten von der Geißelung, den
Schlägen, der Dornenkrönung, der Seitenwunde und den Nagelwunden an Händen und Füßen
und so weiter übereinstimmen. Die Pilger sehen ein Bild, doch es wird ihnen geholfen,
darin ein Zeichen zu sehen, das auf den Jesus verweist, von dem die Evangelien berichten.
Der geistliche Nutzen der Betrachtung wird die Wiederentdeckung der Entäußerung des
Herrn bis zum Tod sein. Sie wird demzufolge wieder das Bewußtsein dafür wecken, wie sehr
wir geliebt werden. Sie stellt auch die Einladung dar, über die Gekreuzigten"
von heute nachzudenken: die Armen, Leidenden, Verfolgten, mit denen sich Jesus
identifizieren wollte.
Das
Thema der Ausstellung Alle Menschen schauen dein Heil" will die Mitte des
Ereignisses, nämlich Christus, hervorheben. Die Menschen kommen, um das Geheimnis der
Erlösung zu betrachten, die Christus uns durch sein Leiden, Sterben und seine
Auferstehung erwirkt hat. Das Heil ist natürlich nicht in dem Linnen. Das Heil ist jenes,
das Christus uns schenkt. Und wir alle haben dieses Heil bitter nötig.
Welche Haltung wünscht man sich von den Pilgern, wenn sie sich dem Grabtuch nähern?
SALDARINI: Ich wünsche mir, daß sich alle zutiefst von dem Gedanken an das Ausmaß
des Leidens Christi bewegen lassen, vom Gedanken an jenen Leib, der für uns hingegeben
wurde, an das Blut, das für uns vergossen wurde. Dann werden Gefühle der Dankbarkeit und
der Liebe sowie Vorsätze zur Treue gegenüber seinen Lehren entstehen.